In Zusammenhang mit SPUREN – TRACKS
WILD – Bundesstart 15.01.2015
Mit zweiundzwanzig Jahren verliert Cheryl Strayed ihre Mutter. Nichts ahnend, wie viel ihr diese Frau tatsächlich bedeutete, und wie wichtig sie für Cheryl eigentlich war. Mit 26 ist sie ganz unten angekommen, und sie weiß, dass sie nur mit einem ganz drastischen Schritt dem Teufelskreis von Heroin und Promiskuität entfliehen kann. Dieser drastische Schritt kommt mit einem zufälligen Blick auf einen Wanderführer für den Pacific Crest Trail. Cheryl muss weg aus ihrem selbstzerstörerischen Umfeld, und sie muss zu sich selbst finden, was nur in Einsamkeit gelingen kann. Und so eine Geschichte ist auch für den Zuschauer nicht wirklich neu. Bleibt man im Kino, denkt man bei Cheryls Ausstieg schon allein wegen des Titels an Sean Penns INTO THE WILD, die Selbstfindung einer Frau ist bei EAT PRAY LOVE ja am populärsten vertreten, und die unglaublichen Strapazen dieser Reise, gepaart mit der Konfrontation des eigenen Selbst, vermitteln einen Hauch von 127 HOURS. Eigentlich ist Reese Witherspoons WILD auch eine Mischung von allem, und doch hat er nichts mit diesen Filmen gemein. Es ist Witherspoons Film, auch wenn DALLAS BUYERS CLUB Regisseur Jean-Marc Vallée die Inszenierung übernahm. Aber das Sunny-Girl, das bisher nur selten ernste Rollen spielte, hat bereits die Rechte an der Geschichte von Cheryl Strayed für ihre Firma Pacific Standard erworben, noch bevor das Buch überhaupt veröffentlicht wurde. Sich selbst für die Hauptrolle besetzend, zeigt sich WILD zweifellos als eine Herzensangelegenheit.
Der Film beginnt mit einem der dramatischsten Momente auf Cheryls Wanderung, um von da zurück zum Beginn der Reise zu springen. Mit einem überfrachteten Rucksack, beginnt ihre 1100 Meilen lange Suche nach sich selbst. Es ist nicht der komplette Pacific Crest Trial, den Cheryl gehen wird, aber der Weg im Allgemeinen zählt zu den schwierigsten Wanderrouten in Amerika überhaupt. Kaum einer geht den Weg allein, Frauen sind auf der Strecke eine Besonderheit. In immer wieder eingestreuten Rückblenden erfährt der Zuschauer nach und nach, wie Cheryl an diesen Punkt gekommen ist. Die unbändige Liebe ihrer Mutter, der plötzliche Verlust, und die fordernde Orientierungslosigkeit. So bekannt einem alles auch vorkommen mag, ist dies ein Film voller Überraschungen. Und das ist nicht nur Reese Witherspoon, die sich hier so weit vom All-American-Girl befindet, wie in noch keiner ihrer Rollen zuvor. Stark, ängstlich, überfordert, mutig, verletzlich, entschlossen. Das mag alles zu einem üblichen Repertoire eines Schauspielers gehören, dies aber so nuanciert und über den Film verteilt so ausgeglichen, den jeweiligen Szenen geschuldet, überzeugend zu transportieren, das macht die einnehmende Atmosphäre von WILD aus. Witherspoon hält den Zuschauer bei ihrem Charakter, immer wieder ihre Selbstmotivation, dann wieder dramatische Rückschläge, sehr viel Verzweiflung, und immer wieder Hoffnung, und ein unschlagbares Glücksgefühl. Für lange Zeit wird diese Rolle der Maßstab für Reese Witherspoon sein.
Auffallend in der Inszenierung ist Jean-Marc Vallées Verweigerung, das Drama aufdringlich zu strapazieren. Der Film braucht in seinen Rückblenden immer nur wenige Bilder und kaum Dialoge, um das Innenleben seiner Hauptfigur aufzuzeichnen, und verständlich zu machen, wie die einzelnen Lebensstationen ineinander greifen und sich beeinflussen. Aber zweifellos kommt in dieser Beziehung auch viel von Nick Hornbys Drehbuch. Der eigentliche Romanautor befasst sich in seinen Büchern gerne mit gescheiterten Existenzen, ruhelosen Seelen, oder suchenden Anti-Helden, wo er seine Figuren ebenfalls ohne Umschweife auf den Punkt beschreiben kann. Sehr deutlich wird das auch mit der lebenslustigen Mutter Bobbi, deren bedingungslose Liebe und Zuneigung zu ihren Kindern kaum erwidert wird, was letztendlich Ausschlag ist, dass Cheryl den Halt verliert. Es kommt natürlich noch der glückliche Umstand hinzu, das Bobbi von Laura Dern gespielt wird, die mit einer unglaublichen Energie die Leinwand erfüllt. Reflektiert man WILD analytisch, dann sieht man sofort, dass nicht nur die einzelnen künstlerischen Aspekte und Gewerke für sich phantastisch ausgearbeitet sind, sondern alles symbiotisch ineinander greift und sich gegenseitig verstärkt.
Da ist zum Beispiel auch WILDs unerwarteter Humor, wie überhaupt der ganze Film ein Werk mit vielen sich ergänzenden Überraschungen ist. Aber er bemüht keinen brachialen Witz, sondern feinsinnige, den Szenen angemessene Lacher, die mitunter auch etwas Tragisches mit sich führen. Wie der Kampf mit dem Rucksack, oder ein Reporter, der vollkommen ignoriert, dass Cheryl keine Landstreicherin ist. Auch wenn dies von Jean-Marc Vallée hinreißend und knackig inszeniert wurde, trägt der Humor eindeutig Hornbys Handschrift. Und Yves Bélanger setzt das alles in wunderbare Bilder. Teilweise sind seine Landschaftsaufnahmen atemberaubend, aber niemals verklärend. Immer wieder machen die Aufnahmen deutlich, warum der Pacific Crest Trail zu den anspruchsvollsten Tourenwegen gehört. Wie seine Künstlerkollegen, erzeugt auch Bélanger eine ausgewogene Atmosphäre, schafft einerseits eine einnehmende Faszination für die Natur, lässt aber auf der anderen Seite auch deren unnachgiebige Härte mit einfließen.
An und für sich ist WILD eine runde Sache mit überragenden Darsteller, einer fesselnden Inszenierung, und einer mitnehmenden Geschichte. Nur einen kleinen Haken gibt es in der Handlung, wo es zu zwei Standard-Situationen kommt, die zwangsläufig eintreten, wenn Frauen alleine unterwegs sind. Und da wäre die Erstere vollkommen ausreichend gewesen, während die Zweite lediglich als unnötiger Effekt auf die erste Situation aufbaut. Derartige Umstände als solche, sind allerdings leider dem wirklichen Leben geschuldet. Und in der Beziehung wird es Robyn Davidson nicht anders ergangen sein. 1977 unternahm Robyn Davidson eine 1700 Meilen lange Reise zu Fuß durch das australische Outback, begleitet von einem Hund und vier Kamelen. Eindrucksvoll gespielt von Mia Wasikowska, und spannend umgesetzt von John Curran in SPUREN. Eine ebenso authentische Geschichte von Selbstfindung, der WILD thematisch und inhaltlich am Nächsten kommt. Es bleibt also für den Kinogänger immer das Gefühl, eine Geschichten bereits zu kennen. Diese Heldenreisen, wo von Selbstzweifel geplagte Menschen, in einem fast selbstzerstörerischen Unterfangen, ihre eigenen Zwänge aufbrechen, und gestärkt in ein neues Leben gehen. Und bei WILD ist es keineswegs anders. Nur das dieser Film eine Qualität besitzt, die sehr selten geworden ist. Er geht unbemerkt tiefer. Er beschäftigt einen mehr, als man zuerst annehmen würde. WILD ist ein Film, der lange nachhält.
Darsteller: Reese Witherspoon, Laura Dern, Thomas Sadoski, Keene McRae, Michiel Huisman, W. Earl Brown, Gaby Hoffmann u.a.
Regie: Jean-Marc Vallée
Drehbuch: Nick Hornby, nach den Memoiren von Cheryl Strayed
Kamera: Yves Bélanger
Bildschnitt: Martin Pensa, Jean-Marc Vallée als John Mac Murphy
USA / 2014
115 Minuten