THE GIVER – Bundesstart 02.10.2014
Als Lois Lowrys Kinderbuch THE GIVER – HÜTER DER ERINNERUNG erschien, zeigte sich der Schauspieler Jeff Bridges sofort interessiert. Zwei Filme hatte er bis zu diesem Zeitpunkt erst produziert, und in Lowrys Roman sah er nicht nur eine ansprechende Geschichte, sondern ein exzellentes Vehikel für seinen Vater Lloyd Bridges. Nach seinen eigenen Angaben, muss es wohl auch in den Tiefen von Kellern oder Dachböden die Kopie eines Filmes geben, den die Bridges Familie im Heimkino-Format aus der Romanvorlage fertigte, um eventuelle Investoren zu interessieren. Lloyd verstarb 1998, und weitere 15 Jahre vergingen bis THE GIVER realisiert werden konnte. Zehn dieser Jahre war Walden Media ein treuer Begleiter, die sich nicht nur mit Projekten wie der REISE ZUM MITTELPUNKT DER ERDE Reihe, und den NARNIA-Verfilmungen zu Kinder- und Jugendfilm-Experten mauserten. Dennoch ließ sich der Film schwer realisieren, und das filmische Endprodukt THE GIVER zeigt auch genau auf, woran es dem Film mangelt, um das moderne Kino zu bedienen, in dem es alle Altersgruppen zu unterhalten versteht. THE GIVER war als Kinderbuch geschrieben, und gibt als Film auch nicht viel mehr her.
Zuerst ist es wieder eine nur scheinbar perfekte Zukunft. Aber keine, die sich selbst zu erklären versteht. Ordentliche Off-Kommentare sind eingesetzt, um den Zuschauer auf die Situation einzustimmen, was allerdings nicht notwendig gewesen wäre, hätten sich die kreativen Abteilungen etwas mehr um die Situation bemüht. Nach dem sogenannten Zusammenbruch der bekannten Weltordnung, wurden Gefühle, Farben und Individualitäten aus der Gesellschaft verbannt. In dieser geordneten Welt gibt es allerdings eine Person, die das Wissen an frühere Zeiten und Zustände bewahrt, und irgendwann an einen Nachfolger weitergibt. Hüter des Wissens, das ist zuerst Jeff Bridges, der seinen Erfahrungsschatz an Brenton Thwaites weitergibt, in dieser Welt, wo die Aufgaben des Individuums klar geregelt und zugeteilt werden. Was also dereinst der Sohn für seinen Vater ersonnen hatte, geht nun an den kreativen Kopf selbst. Jeff zelebriert die Rolle, die er dereinst auf seinen Vater Lloyd reflektiert sah, mit unaufdringlichem Pathos.
Aber einen wirklichen guten Film ergibt das dann auch wieder nicht. Obwohl bereits 1993 geschrieben, ergibt sich THE GIVER in der Literatur-Landschaft wie eine Epigone der weit später erschienenen DIVERGENT- und PANEM-Reihen. Wo THE GIVER als Roman Jahre zuvor erschienen war, kommt er als Verfilmung um Jahre zu spät. Das liegt vor allem daran, dass die Produzenten zu sehr an der Buchvorlage haften, und sich damit ihre Zielgruppe festlegen. Mit seinen sympathischen und überzeugenden Darstellern kann der Film durchaus gute Momente ausspielen. Und sehr mutig ist in der Bildgestaltung, dass THE GIVER sich tatsächlich traut, in Schwarzweiß zu beginnen. Erst als Jonas, als auserwählter Nachfolger des alternden Hüters, mehr und mehr versteht, wie die vorangegangene Welt funktioniert und ausgesehen hat, gewinnen einzelne Elemente langsam an Farbe. Bei Jonas beginnt es mit leichten Rottönen. Während die Kameraarbeit ansonsten eher einem professionellen Durchschnitt entspricht, ist das Farben-Gimmick nicht nur verwegen, sondern vertieft zudem auf spannende Weise die Erzählebene.
Doch hat auch diese Zukunftsvision keinen wirklich haltbaren Unterbau. Wie kann überhaupt erst eine Gesellschaftsform entstehen, die derart fragil ist, dass sie allein von einem zweifelnden Jugendlichen gestürzt werden kann? Auch wenn Sinn und Zweck sich oberflächlich betrachtet vernünftig anhören. Doch was für einen Sinn macht es, durch Medikation den Menschen seiner Farben zu berauben, das Wort Liebe aus dem Wortschatz zu streichen, wenn alle gleichgeschalten sind, oder wirkliche Emotionen getilgt werden. Selbstverständlich bleibt alles in Harmonie, und verhindert Kriege. Dennoch zeigt sich keine greifbare Grundlage, dass sich Menschen zu dieser Form einer Gesellschaft entschließen würden. Dabei sind einige der Ideen in der Geschichte durchaus interessante Gedankenspiele. So ist der Wandel in den Wahrnehmungen der einzelnen Figuren sehr gut umgesetzt, ihr Entsetzen über plötzlich empfundene Emotionen, oder Verwunderung darüber, mit einem mal Farben wahrnehmen zu können. Aber auch das Konzept, dass Ärzte Babys exekutieren, ohne eine Vorstellung vom töten zu haben, und somit vollkommen unreflektiert ihre Aufgaben verrichten.
Aber die fragwürdige, instabile Vision krankt auch am Mangel von Originalität im Setdesign. Auch hier wird oberflächlich gesehen, durchaus eine weiter entwickelte Zukunft vorgegaukelt. Doch die speichenlosen Fahrräder sind lediglich optischer Schnickschnack, genau wie der Fußgängerweg über den zentralen Kuppelbau. Vieles am Design macht einfach keinen Sinn. Wie die kubischen Wohnhäuser mit ihren versetzten zweiten Stockwerken. Oder warum brennen in der Community alle Straßenlaternen, obwohl Nachts eine grundsätzliche Ausgangsperre besteht?
Warum THE GIVER dennoch großes Unterhaltungspotential besitzt, ist seinem unaufgeregten Ton zu verdanken, der sich erheblich von der eigentlich Ausdrucksweise im Mainstream abhebt. Das Urgestein Philip Noyce wusste genau, wie er seine Darsteller agieren lassen konnte, und die Szenen im Einklang damit inszenieren musste. Mit einem extrem geringen Budget von gerade einmal 25 Millionen Dollar, kann er es sich auch erlauben, sich weit vom Kino-Einerlei zu entfernen, ohne das die Produzenten sofort kalte Füße bekommen mussten. Der zu erwartende Showdown folgt im Aufbau der klassischen Dramaturgie, und versteht es sehr geschickt, diese Dramaturgie dann gegen sich selbst zu richten. Die Auflösung des Films folgt ganz dem Ende der Romanvorlage, und zeigt sich als größte Überraschung. Denn versteht THE GIVER nie wirklich die Atmosphäre eines Kinderfilmes abzuschütteln, fordert er am Ende sein Publikum jeden Alters heraus.
Darsteller: Brenton Thwaites, Odeya Rush, Cameron Monaghan, Jeff Bridges, Meryl Streep, Alexander Skarsgård, Katie Holmes, Taylor Swift u.a.
Regie: Philip Noyce
Drehbuch: Michael Mitnick, Robert Weide, nach dem Roman von Lois Lowry
Kamera: Ross Emery
Bildschnitt: Barry Alexander Brwon
Musik: Marco Beltrami
Produktionsdesign: Ed Verreaux
USA / 2014
97 Minuten
Bildrechte: StudioCanal