FRUITVALE STATION – Bundesstart 01.05.2014
Oscar ist einer dieser ganz einfachen All-American-Boys. Gerade auf der Schwelle wirklich erwachsen zu werden. Verrückt mit seiner Tochter, aber doch irgendwie verantwortungslos. Die Freundin macht ihm immer Vorwürfe, und liebt ihn dennoch. Die Mutter sorgt sich um ihn, und liebt ihn noch mehr. Er kommt des Öfteren zu spät, und wird dafür gefeuert. Er kann charmant hilfsbereit sein, aber auch impulsiv und nicht auf den Mund gefallen. Oscar ist gerade 22 Jahre alt, also der genau der Typ Kerl, wie er durchschnittlicher nicht sein könnte. Gut, Oscar hat zu diesem Zeitpunkt schon zweimal im Gefängnis gesessen, was vorkommen kann. Aber Oscar ist Schwarzer. Und das wird am Ende eines langen Tages, den Verlauf des Schicksals bestimmen. Mindestens drei Smart-Phones haben die tatsächlichen Ereignisse auf der Bahnstation Fruitvale Station in Oakland aufgezeichnet, welche sich in der Nacht des 1. Januar 2009 ereigneten. Und diese Aufzeichnungen sind Zeugnis von einem Amerika, welches sich noch lange nicht gefunden hat.
Ryan Cooglers Spielfilm-Debut ist kein cineastisches Meisterwerk, das kann man einfach so sagen, ohne die Objektivität zu verlieren. Er folgt den sehr gewöhnlichen Stilmitteln des Independent-Kinos. Rachel Morrisons Kamera ist immer sehr nahe an den Protagonisten, hauptsächlich von der Schulter gedreht. Michael B. Jordan, der Oscar so unaufdringlich realistisch verkörpert, wird meist seitlich gezeigt, um ihn mit seinem Sichtfeld, also seiner Umwelt zusammen zu bringen. Oder er wird in ungeschnittenen Sequenzen lediglich von hinten angeschnitten, um den Zuschauer in Oscars optische, aber gleichzeitig auch emotionale Position zu versetzen. Das ist natürlich die einfache Psychologie des unabhängigen Kinos, welches mit geringsten Mitteln, den größtmöglichen Effekt erzielen möchte. Die Einfachheit dieser cinematischen Kniffe, sind einfache Grundlagen jeder Filmschule. Warum also, funktioniert FRUITVALE STATION trotzdem wie ein emotional hoch stilisierter Hollywood-Streifen?
FRUITVALE STATION erzählt keine Geschichte. Es ist der Abriss eines ganz normalen Tages. Die Dialoge sind keine erklärenden, oder sich gegenseitig aufschaukelnden Sätze. Konfrontationen sind keine lebensverändernden Ereignisse. So behält sich der Film über sechzig Minuten eine einheitliche, sich nicht steigernde Dramaturgie. Ryan Coogler, der selbst aus Oakland stammt, stellt den Zuschauer neben Oscar Grant, und holt das Publikum in diese Familie und Oscars Freundeskreis. Dieser Zuschauer weiß zu diesem Zeitpunkt längst was passieren wird, und hier bezieht der Film seine einnehmende Kraft. Weil Coogler darauf verzichtet Spannung aufzubauen, oder eine künstliche Dramaturgie in die verschiedenen Szenen einfließen zu lassen, werden die Figuren, und besonders Oscar, zu ganz leicht nachvollziehbaren und glaubwürdigen Charakteren. Der Film gibt zu keinem Zeitpunkt vor, wie der Zuschauer die Personen sehen darf oder sollte. Und dann passiert, was so gar nicht in diese Stimmung passen mag.
Rodney King und Amadou Diallo mögen die bekanntesten Opfer von Polizeibrutalität sein, leider aber auch nicht die einzigen. Doch weit mehr als die Opfer, steht immer wieder die Tat selbst im Vordergrund, und die Wut auf die Täter. Proteste und Unruhen haben nie etwas an der Situation geändert, dass Polizisten immer wieder zu ungerechtfertigten Übergriffen neigen. So vermeidet auch Ryan Cooglers Erinnerung an Oscar Grant jeden Protest, und erhebt auch keine Anklage. Doch er gibt den Menschen ein Gesicht zu den Ereignissen, er gibt dem Zuschauer eine Familie, eine Geschichte, eine Einschätzung des Charakters. Stellvertretend für all die Unschuldigen, denen ähnliches widerfahren ist, steht mit FRUITVALE STATION der Mensch über den Geschehnissen. Und macht diese Taten damit noch unvorstellbarer. Der Name der Bahnstation ist inzwischen ein Synonym für Polizeibrutalität, also steht auch hier das Ereignis und der Ort über dem eigentlichen Opfer. Somit hat Ryan Coogler einen sehr wichtigen Film gemacht, aber auch einen sehr sehenswerten Film. Einer der fesselt, und betroffen macht. Und dies, ohne den Zeigefinger zu erheben. Das macht ihn so ergreifend. Doch darf man nebenher nicht vergessen, dass es auch Menschen wie Larry DePrimo gibt, der bei seinem Wachtdienst an einem bitterkalten Novemberabend, einem unbekannten Obdachlosen spontan ein Paar Winterstiefel kaufte. Eine ehrwürdige Tat, auf die niemand aufmerksam geworden wäre, hätte nicht eine Touristin die Vorgänge beobachtet, und ein Foto von DePrimo und dem Obdachlosen gemacht, welches sie veröffentlichte.
Darsteller: Michael B. Jordan, Melonie Diaz, Octavia Spencer, Ahna O’Reilly, Ariana Neal, Kevin Durand, Chad Michael Murray, Keenan Coogler, Marjorie Crump-Shears u.v.a.
Regie & Drehbuch: Ryan Coogler
Kamera: Rachel Morrison
Bildschnitt: Claudia Castello, Michael P. Shawver
Musik: Ludwig Göransson
Produktionsdesign: Hannah Beachler
USA / 2013
zirka 85 Minuten