LINCOLN – Bundesstart 24.01.2013
Der Mensch, der Mann, die Ikone, der Mythos. Mit LINCOLN schuf Steven Spielberg seinen bisher politischsten Film, wenngleich MÜNCHEN sehr nahe an diesem Attribut ist. Das liegt daran, dass es Spielberg hervorragend gelingt, den mystifizierten Volkshelden zu einem ehrlichen Menschen zu machen. Natürlich auch ein Verdienst der geradezu gespenstischen Personifizierung durch Daniel Day-Lewis, der die Rolle trotz Spielbergs Hartnäckigkeit mehrmals ablehnte. Dabei sollte aber auch Tony Kushners Beitrag mit einem über mehrere Jahre gewachsenen Drehbuch nicht vergessen werden. Dies ist ein Spielberg-Film durch und durch. Und doch lässt er sich nur marginal mit einem seiner anderen fünfzig Filmen vergleichen.
Selten war der Hollywood-Wunderknabe länger mit der Vorproduktion eines Films beschäftigt. Über zehn Jahre, in denen er nebenher acht Filme als Regisseur drehte, war LINCOLN sein steter Wegbegleiter. Dabei wurde nichts dem Zufall überlassen. Alte Fotos und Zeichnungen dienten als Vorlage für die Bauten und die Ausstattung. Dokumente und Tagebücher bildeten die Grundlage nicht nur für die Darsteller, sondern auch für akkurate Dialoge. Ein Umstand, der Sally Fields beinahe die Rolle der ‚Molly‘ Mary Todd Lincoln gekostet hätte, da sie für die Rolle als Präsidentengattin eigentlich viel zu alt war. Das führte sogar so weit, dass sich der Regisseur im zeitgenössischen Anzug am Set bewegte. Wobei Bilder belegen, dass er trotzdem nicht auf eine seiner Baseballcaps verzichtete. Aber schließlich war es LINCOLN, und so viel hätte dabei schiefgehen können. Schon der kleinste Ausrutscher wäre für Hysteriker und Historiker Grund genug gewesen, Spielberg seinen Film um die Ohren zu hauen.
Es sind die vier entscheidendsten Monate in der Geschichte Amerikas. Zu diesem Zeitpunkt sind sie nicht wirklich die Vereinigten Staaten. Präsident Lincoln wurde gerade in eine zweite Amtszeit gewählt, die Sklaverei soll abgeschafft und der Bürgerkrieg beendet werden. Vier Monate, die niemals Zeit genug sein konnten, um Abe Lincolns politisches Ansinnen umzusetzen. Denn sollte der 13. Artikelzusatz durch das Repräsentantenhaus verabschiedet werden, der die Abschaffung der Sklaverei beinhaltet, würde der Süden keine Kapitulation unterzeichnen. Würde hingegen die Kapitulation vorher unterzeichnet, sähen die Abgeordneten keinen Grund mehr, dem 13. Artikelzusatz zuzustimmen. LINCOLN ist also nicht nur eine Biografie, er ist gleichzeitig Zeitdokument und Abbild der bis heute ungebrochenen Strukturen in der politischen Landschaft Amerikas.
Obwohl LINCOLN wie ein monumentales Epos erscheint, ist er dann doch ein Kammerspiel. Ein sehr menschliches Kammerspiel. Die monumentale Staatsikone Lincoln wird zu einer greifbaren Figur. Zu einer sehr menschlichen Figur. Aber die Geschichte des übermächtig wirkenden Präsidenten ist am Ende doch die Geschichte einer Nation. Dadurch entspinnt sich für den Film eine eigenartige Wechselwirkung. Denn tatsächlich wird die Politik von einem bodenständigen Menschen bestimmt, dessen Politik zu einer überhöhten Metapher für die Zukunft einer gespaltenen Nation wird. Es ist eben Steven Spielbergs politischster Film. Wobei er dadurch auch sehr viel über das bisher ungebrochene System von politischer Einflussnahme aussagen kann. Dieses durch und durch Amerikanische macht es vor allem dem deutschen Publikum schwer, in der ersten Hälfte LINCOLNs dem Geschehen im vollen Umfang zu folgen. Das ändert sich in der zweiten Hälfte, und dies zur Freude des Publikums, aber nicht auf Kosten der komplexen Erzählform, wenn Regie und Buch es schaffen, eine allseits verständliche Struktur zu finden, ohne zu trivialisieren.
LINCOLN wird im nichtamerikanischen Ausland keineswegs den heimischen Erfolg erreichen. Das Thema, die Figur und die Geschichte sind eben geographisch gebunden. Es ist diese alles überragende Kunst von Steven Spielberg, nicht zu vergessen in einem kongenialen Einklang mit dem exquisiten Drehbuch, bis zum Ende doch diese Begeisterung für LINCOLN zu inszenieren, welche die Zuschauer schon bei allen anderen Spielberg-Filmen so mitgerissen hat. Überragende Darsteller, herausragende Detailversessenheit, die hohe Kunst von außerordentlicher Bildgestaltung und dieses beängstigende Gespür für Tempo und Rhythmus formen Steven Spielbergs jüngste, ohne Übertreibung als Meisterwerk zu bezeichnende Filmgeschichte.
LINCOLN als Meisterwerk ist keiner Einzelleistung zuzuschreiben. Denn man darf Janusz Kaminskis überstrahlende Bilder mit ihren ausgewaschenen Farben nicht vergessen, die wieder einmal eine sehr eigenwillige, aber stimmige Atmosphäre für einen Spielberg-Film schaffen. Und vor allen Dingen Daniel Day-Lewis. Es ist nicht einfach so, dass er Abraham Lincoln ist. Vielmehr ist in der Figur von Abraham Lincoln keine Spur von Daniel Day-Lewis mehr zu erkennen. In keinem Film seiner Karriere, auch nicht in MY LEFT FOOT, war der Darsteller derart in seiner Figur aufgegangen. Egal, was vorher war oder was nachher kommen mag, Abraham Lincoln ist mit Daniel Day-Lewis zu einer verständlichen Figur auch für die Welt außerhalb des Kinos geworden. Daniel Day-Lewis war noch nie weniger Darsteller als in der Charakterisierung von Abe Lincoln, aber auch noch nie intensiver in einer Darstellung wie in der des 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten.
Ihre Namen sind Steven Spielberg, Janusz Kaminski, Daniel Day-Lewis, dazu gehört auch der Rest des Ensembles. Sie haben LINCOLN zu dem gemacht, was dem Film letztendlich seine Würde verleiht. Ein Filmkunststück, welches ein nationales Dilemma zu einer verständlichen Stunde von Geschichte für die Allgemeinheit und den Rest Amerikas portraitiert. Ein sehr erwachsener Steven Spielberg eben.
Darsteller: Daniel Day Lewis, Sally Field, David Strathairn, Joseph Gordon-Levitt, James Spader, Hal Holbrook, Tommy Lee Jones, Lee Pace, Michael Stuhlbarg, David Costabile, Jackie Earle Haley u.v.a.
Regie: Steven Spielberg
Drehbuch: Tony Kushner teilweise basierend auf Doris Kearns Goodwins Buch ‚Team of Rivals‘
Kamera: Janusz Kaminski
Bildschnitt: Michael Kahn
Musik: John Williams
Produktionsdesign: Rick Carter
USA / 2012
zirka 149 Minuten