GRAVITY – Bundesstart 03.10.2013
Erst kürzlich habe ich mich zum wiederholten Male darüber echauffiert, dass gute Science-Fiction-Filme selten geworden sind. Es war also nur eine Frage der Zeit, das die Kinowelt wieder einmal belohnt werden würde. Mit Regisseur und Drehbuchautor Alfonso Cuarón konnte man bestimmt mit einer Überraschung rechnen, nicht aber mit dem, was GRAVITY letztlich für ein Film geworden ist. Vor kurzem stolperte ich über die Frage zu einem anderen Film, ob er perfekt wäre, oder zu perfekt. Als nach ungewöhnlich kurzen 85 Minuten der Abspann von GRAVITY beginnt, war augenblicklich diese Frage da. War es perfekt, oder zu perfekt? GRAVITY ist kein Film den ich analytisch betrachten möchte, weil er einen zu starken, einen zu überwältigenden Eindruck gemacht hat. Dieser Eindruck kommt nicht mit dem Ganzen, nicht als Summe eines Erlebnisses. Dieser Film nimmt einen von der ersten Einstellung gefangen, und lässt nicht mehr los. Nein, Alfonso Cuarón lässt nicht einfach nicht mehr los, er zieht einen mit unglaublicher Kraft immer stärker in das Geschehen. Und das ist möglich mit einer Geschichte, die kaum eine zu sein scheint. Mit Darstellern, die sonst in vollkommen anderen Genres erfolgreich sind. Und mit einer stilistischen Präzision, die in den vergangenen Jahren nicht einmal ansatzweise im Mainstream-Kino zu finden war. Und gleichzeitig muss ich mir die Frage stellen, ob GRAVITY tatsächlich Mainstream-Kino sein kann, oder doch ein überteuerter Arthouse-Streifen ist. Auf alle Fälle ist es in vielen Punkten ein einmaliges Erlebnis.
Sandra Bullock hat schon alle Genres mehr oder weniger erfolgreich bedient. Tatsächlich ist sie aber in erster Linie das witzige Girlie, der Kumpeltyp unter den weiblichen Filmstars, die, die alle Hollywood-Standards erfüllt. Aber hier ist Sandra Bullock nicht mehr die Sandra Bullock, die mit leichten, unverfänglichen Komödien unterhält. Das erste Mal in ihrer langen, bereits ausgefüllten Karriere, habe ich Sandra Bullock als Frau erlebt, nicht den Kumpeltyp. Das erste mal, in der sie eine reale Person war, und kein Hollywood-Standard. Zum ersten Mal war das putzige Girlie in ihrer Darstellung vollkommen abwesend. Die Bullock hat für BLIND SIDE einen Oscar gewonnen, aber selbst als resolute Südstaaten-Mutter war sie die schnuckelige Sandra von nebenan. Ryan Stone, die Hauptfigur in GRAVITY, ist eine reale, eine greifbare Figur. Sandra Bullock, nicht als ältere, aber als wesentlich gereifte Frau. Eine Evolution, die man als Letztes erwartet hätte. Doch so hoch der Beitrag von Frau Bullock zu würdigen ist, ist es kein Sandra-Bullock-Film. Es ist ein Film von Alfonso Cuarón. Der, der mit dem GEFANGENEN VON AZKABAN den denkwürdigsten Harry-Potter-Film inszenierte, und mit CILDREN OF MEN Action vollkommen neu definierte.
Über 3D lässt sich bekanntlich viel streiten. Sinn und Unsinn. Wie ist es eingesetzt, und trägt es zur Handlung bei? Natürlich wird AVATAR in dieser Beziehung seine Vormachtstellung durch irrende Gemüter und unzulängliche Erfahrung behaupten können. Zugegeben, was den stereoskopischen Effekt angeht, hat James Cameron alles richtig gemacht. Hat es AVATAR zu einem besseren Film gemacht? Nachwievor sind Pixars Animationsfilme die kunstvollsten und effektivsten Nutznießer von 3D. Doch auf einmal kommt Alfonso Cuarón. Und er dreht nicht nur den eindringlichsten, sondern auch spektakulärsten 3D-Film, seit das Medium neu erfunden wurde. Jeder Film, der sich zukünftig in 3D neben GRAVITY behaupten könnte, muss aus Alfonso Cuaróns Konzept von GRAVITY gelernt haben. 3D ist bei GRAVITY nicht nur die so viel zitierte zusätzliche Erzählebene. 3D wird von Alfonso Cuarón genutzt, wie von keinem anderen Filmemacher zuvor. Er macht den Effekt nicht zur zusätzlichen, sondern zur eigentlichen Erzählebene.
Vielleicht erinnert sich der ein oder andere an die Action-Sequenzen in CHILDREN OF MEN, die aus unvorstellbar kompliziert choreografierten Plansequenzen bestanden. Alfonso Cuarón geht bei GRAVITY einen entscheidenden Schritt weiter. Waren bei CHILDREN die langen Sequenzen einer physischen Logistik unterworfen, entwickelten sich hier die atemberaubenden Weltraum-Aufnahmen maßgeblich durch die innovative Kraft von Inspiration, Kunstverständnis und psychologischem Gespür. Fast eine halbe Stunde dauert die ungeschnittene Eingangssequenz, in der die Kamera die Gesichter nah einfängt, sich wieder mehrere hundert Meter vom Ort entfernt, erneut annähert, mal auf den Figuren verweilt, um sie dann stationär zu verlieren, sich wieder entfernt, um dann so nahe zu kommen, dass die Kamera unvermittelt den subjektiven Blick der Astronauten einnimmt, inklusive Spiegelung des Visiers. Das diese Ästhetik nicht zu einem optischen Chaos verkommt, ist dem Feinsinn der Inszenierung zu verdanken, wo der Regisseur stets das perfekte Tempo findet und im genau passenden Moment diese Perspektivenwechsel vollzieht. Doch das ist erst der Beginn einer ungeheuren Tour-de-Force, wie sie kein Film in den kommenden Jahren seinem Publikum mehr bieten können wird.
Der Weltraum ist kein Abenteuer. GRAVITY ist, in seinem Rahmen, so realistisch, wie es kaum einem Film in dem Genre bisher gelungen ist. Alfonso Cuarón wischt jede Verklärung sofort von der Leinwand. Mit seinen grandiosen und intensiven, weil sehr ausgeklügelten Bildern, reduziert er den Menschen auf das, was er im Weltraum tatsächlich ist. Es ist eben kein Abenteuer, der Weltraum ist nicht des Menschen Freund. Es bedurfte nicht einmal die Hälfte des Films, bis ich für mich feststellen musste, dass im Verlauf der Handlung alles passieren konnte, und ich auch alles akzeptieren würde. Dabei verbietet sich der Film auch die romantisierte Vorstellung von spirituellen Einklängen des Menschen mit dem Universum. Weder die Inszenierung, noch die Handlung unterwerfen sich klassischen Spannungselementen, weil diese allein mit dem optischen Rahmen vollkommen ausgehebelt wurden. Ich war nie ein Freund von 3D, weil es den allerwenigsten Filmen gelang, das Medium integrativ zu nutzen. GRAVITY funktioniert bestimmt auch in zweidimensionaler Optik, aber er ist definitiv der Film, der in 3D gesehen werden sollte. Ich kann mich an keinen Film erinnern, wo mich auch nur eine Szene in 3D derart überwältigt hätte, weil sie ausschließlich in 3D ihren vollen emotionalen Umfang ausspielen durfte. GRAVITY ist von der ersten, bis zur letzten Szene dieses Ereignis, welches diese überwältigenden Eindrücke unablässig zu zelebrieren versteht.
Wer den Fehler begeht, sich im Vorfeld mit Foren und Rezensionskommentaren abzugeben, der wird sehr schnell zu einer ungerechtfertigten Ernüchterung gebracht. Nichts was Großmäuler und anonyme Idioten gegen GRAVITY ins Feld führen ist wahr. Da werden Dinge angeprangert, die einfach nicht wahr sind. Man würde im schalltoten Raum Geräusche hören, oder es wäre ein für Hollywood typisches Drama. Es gibt sogar Stimmen, die auf Grund des Filmes, nicht den Film, sondern den Begriff von Science-Fiction neu definieren wollten. Alles sehr kontraproduktiv, weil am Film vollkommen vorbei. GRAVITY war für mich kein Erlebnis, sondern eine Erfahrung. Etwas existenzielles. Ging es in federführenden Science-Fiction-Filmen nicht schon immer um die Zustandsbeschreibungen einer aktuellen Gesellschaftsform? Alternative Energieressourcen, Überbevölkerung, tagesaktuelle Politikprobleme. Wie wichtig das ist, reduziert GRAVITY auf zwei Personen und eine einzigen Drehort. Natürlich ist der Weltraum sehr viel mehr als nur ein einfacher Drehort, genau dadurch werden Klimawandel und politische Einflüsse etwas beliebig, denn das Universum setzt sich über diese banalen Menschlichkeiten hinweg. Weder Energie, noch Überbevölkerung, noch politische Problematiken können im großen Ganzen eine Rolle spielen. Der Weltraum ist nicht nur kein Abenteuer, sondern absorbiert auch die Wichtigkeit des Menschen an sich.
Darsteller: Sandra Bullock, George Clooney, Ed Harris (Stimme) u.a.
Regie: Alfonso Cuarón
Drehbuch: Alfonso Cuarón, Jonas Cuarón
Kamera: Emmanuel Lubezki
Bildschnitt: Alfonso Cuarón, Mark Sanger
Musik: Steven Price
Produktionsdesign: Andy Nicholson
USA / 2013
zirka 90 Minuten