FLIGHT – Bundesstart 17.01.2013
Als das Höhenleitwerk blockiert, stürzt die JR-88 der Southjet Air aus 30.000 Fuß ähnlich einem freien Fall auf die Erde zu. 200 Menschen befinden sich an Bord, wovon Captain Whip Whitaker 194 das Leben retten wird. Später wird die Behörde für Sicherheit im Transportwesen, NTSB, mit zehn anderen Piloten das Manöver am Simulator wiederholen, wobei es keinem der Probanden gelingt, die Maschine zu landen. Captain Whip Whitaker wird als der typische Held gefeiert, und sein Kumpel Harling sieht das praktisch: „Du wirst nie wieder in deinem Leben für einen Drink bezahlen müssen.“ In der Tat wäre das praktisch, aber die NTSB gräbt tiefer als nur bis zum Unfallhergang, und da wird es für den Helden Whip ziemlich eng.
Sein letzter Live-Action-Film liegt zwölf Jahre zurück, aber Robert Zemeckis hat nicht vergessen, wobei es darauf ankommt. Mit CAST AWAY machte er aus einer kammerspielartigen Ein-Mann-Show ganz großes Kino, und bei FLIGHT hat Zemeckis genau diesen Weg erneut gefunden. Er beginnt als spektakuläres Katastrophenkino und schlägt plötzlich eine vollkommen andere Richtung ein. Diese Richtung ist ein verstörender Seelen-Striptease, aber auch nur möglich mit dem richtigen Darsteller. Und Denzel Washington ist genau dieser richtige Darsteller.
Wie weit kann man gehen, wie weit sich selbst betrügen? Das Dilemma von Washingtons Charakter Whip ist derart komplex, dass er selbst daran zerbrechen muss. Denn Captain Whitaker ist längst schon zu weit gegangen und sieht auch keine Gründe mehr, sich selbst betrügen zu müssen. Alkoholismus und Drogenmissbrauch sind fester Bestandteil seines Lebens. Emotional bringt der Film seine Hauptfigur gegen den Zuschauer auf, aber das ist noch vor dem verhängnisvollen Flug. Die Gewissensfrage des Zuschauers ist gleichzeitig die selbstzerstörerische Leugnung von Whitaker über seinen Lebenswandel. Nur er konnte das Flugzeug landen. Kann der Zuschauer es am Ende tolerieren, einen Alkohol- und Drogenabhängigen ein Flugzeug steuern zu lassen? Das kann er natürlich nicht. Doch sollte die Behörde Whitaker verbotene Substanzen in seinem Blut am Tag des Fluges nachweisen können, würde er wegen sechsfachen Totschlags angeklagt werden, was unweigerlich zu einer lebenslangen Strafe führen würde. Für einen Mann, der 194 Menschen das Leben rettete.
Während man dem unweigerlichen Straucheln eines Mannes beiwohnt, der in seiner Wut Willensstärke beweist und in seiner Verachtung gegen seine Gegner in immer schlimmere Rückfälle stürzt, entblättert sich von Szene zu Szene die wahre Verlogenheit in unserer Gesellschaft. Whitakers Probleme waren jedem bewusst, der mit ihm zu tun hatte. Aber warum schweigen? Oder wie kann man die geretteten Leben vergüten? Oder man schweigt, um nicht eine gewisse Mitverantwortung aufgebürdet zu bekommen. Whitaker ist für seinen Lebenswandel selbst verantwortlich, dass es so weit kommen konnte, dafür trägt allerdings sein soziales Umfeld Mitschuld. Die moralischen Fragen in FLIGHT scheinen oberflächlich betrachtet die unkomplizierte Variante von Hollywood-Problemen anzusprechen. Erst wenn der Film immer und immer wieder nachhallt, bemerkt man eine Tiefgründigkeit, die über die des Films selbst hinausgeht.
Der Film versagt erst dann, wenn er in den letzten zehn Minuten versucht, eine Lösung anzubieten, für die Figur ebenso wie für seine mitfühlenden Zuschauer. Man kennt die Situationen, man kennt die Konflikte. Man hat eigentlich schon alles mehrfach gesehen. Das Beherrschen, die Rückschläge, einen, der alles wegschüttet und die Toilette hinunterspült, und einen, der mit zitternden Händen am Tresen widerstehen möchte. Genau deswegen braucht man den richtigen Darsteller. Nach seinen überbordenden Motion-Capture-Abenteuern hat Robert Zemeckis zurückgefunden zu diesem Gefühl für das ganz große Kino, das in einer einzigen Figur stecken kann. In vielen Szenen verharrt die Kamera lange und ohne Schnitt auf dem Gesicht von Washington, selbst oder gerade bei Dialogen anderer Charaktere. Es ist seine Welt, und durch seine Augen, seine Gefühle werden wir mit seinem Dilemma vertraut.
Keine Biersorte oder Spirituosenmarke soll zweimal im Film zu sehen sein, man wollte bei einem heiklen Thema natürlich nicht die Hersteller herausfordern. Der Schriftzug von Southjet Air soll an kein anderes Logo einer Fluglinie erinnern, so wie das Flugzeug selbst keinem real existierenden Modell nachempfunden ist. Und so gehört dieser ganze Film Captain Whip Whitaker, der ein Problem hat, an dem wir schmerzlich teilnehmen, und bei dem wir mit in die Verantwortung genommen werden. Warum Drehbuch und Regie den Zuschauer in den letzten zehn Minuten dann so billig und mit vorhersehbaren Plattitüden abspeisen, wird wohl ein Rätsel bleiben.
Darsteller: Denzel Washington, Don Cheadle, Kelly Reilly, John Goodman, Bruce Greenwood, Brian Geraghty, Tamar Tunie, Melissa Leo u.a.
Regie: Robert Zemeckis
Drehbuch: John Gatins
Kamera: Don Burgess
Bildschnitt: Jeremiah O’Driscoll
Musik: Alan Silvestri
Produktionsdesign: Nelson Coates
USA / 2012
zirka 138 Minuten