Seit der Heirat eines amerikanischen Missionars mit einer hawaiianischen Prinzessin im Jahre 1860 war die Familie King der größte Landeigner auf den Inseln von Hawaii. Durch geschickte Spekulationen und Verkäufe musste kein Mitglied der Familie King je wirklich arbeiten, und dennoch konnten alle in Saus und Braus leben. Matthew King ist der einzige, der das anders sieht, und möchte seiner Frau und den beiden Kindern beibringen, dass man Geld auch erst verdienen muss, bevor man es gedankenlos auf den Kopf hauen kann. Matthew ist als Anwalt für Liegenschaftsrecht gleichzeitig Verwalter der Kingschen Ländereien, von denen nur noch 10.000 Hektar übrig sind. Die gesamte Sippschaft ist sich über einen kompletten Verkauf einig, der unverschämt viele Millionen Dollar einbringen würde.
Im Verlauf der 2 Stunden von Alexander Paynes mitreißender Verfilmung wird Matthew King feststellen, dass mit dem Grundbesitz auch eine Verantwortung einhergeht, die über die persönliche Bereicherung hinausgeht. So, wie man als Vater auch eine Pflicht gegenüber den eigenen Kindern übernehmen sollte, die über die materielle Verantwortung hinausgeht, sondern eine innere Hingabe voraussetzt.
Tatsächlich können die nicht zu überhörenden Lobpreisungen für George Clooneys Darstellung des Matthew King den Verdacht aufkommen lassen, 2011 wäre ein schreckliches Kinojahr mit noch viel schrecklicheren Darbietungen gewesen. Doch man muss kein Freund des Frauenschwarms sein, um mit Respekt anzuerkennen, wie beeindruckend er sein Publikum einzunehmen versteht. Sollte es bislang Zweifel gegeben haben, ist Clooney mit „The Descendants“ unmissverständlich ganz oben im Fach der Charakterdarsteller angekommen. Regisseur Payne gibt ihm mit dieser minimalistischen Geschichte um Verlust, Verantwortung und Vertrauen die komplette Palette aller menschlichen Emotionen.
Es muss eine künstlerische Gradwanderung für Payne gewesen sein, in Zusammenarbeit mit Nat Faxon und Jim Rash das Drehbuch so zu verfassen, dass Matthew King in jeder Szene des Films präsent ist. Nicht nur, dass George Clooney in fast allen Szenen zu sehen ist, sondern im Voice-over auch noch erzählt. Eine derartige Fixierung kann mit anderen Darstellern und/oder anderen Regisseuren sehr schnell ermüdend werden. Ist dies vorranging ein George-Clooney-Film, so hat Payne dennoch die Besetzung rund um die Hauptfigur auf den Punkt getroffen. Natürlich allen weit voraus Shaileene Woodley, die in nachfolgenden Produktionen wahrscheinlich eher enttäuschen wird, wenn sie nicht wie von Payne darstellerisch gefordert wird. Als siebzehnjährige Tochter mit Allüren kann sie zickig, dominant, mitfühlend und traurig sein, ohne die Geduld oder Akzeptanz des Publikums zu strapazieren.
Es ist ein Film um Verlust, um Verständnis und um Selbstfindung, die erst stattfinden kann, wenn man den Zugang zu einem anderen gefunden hat. Eine sehr einfache Geschichte, die sich im Gesamten nicht sehr anspruchsvoll ausnimmt. Doch die unglaubliche Natürlichkeit der Darsteller macht weit mehr aus dieser vermeintlich einfachen Geschichte. Sie dürfen Menschen sein, sind greifbar, und ihre Beziehung untereinander bleibt real. Die aufsässige Göre ist in der nächsten Szene wieder die mitfühlende Tochter, der verständnisvolle Vater kann im nächsten Moment zum verzweifelten Despoten werden. Alles bleibt im nachvollziehbaren Rahmen, es ist eben eine Familie, an der man nichts beschönigen oder überspitzen muss.
Ohnehin gestehen weder Buch noch Regie den Darstellern zu, ihre Gefühle oder Gedanken zu artikulieren. Kein leeres Geschwafel über Gefühle oder tränenrührige Dialoge über gewisse Zustände. Nur die Handlung wird über Worte vermittelt, nicht aber die Gefühlswelt der Figuren. Hier zeigt sich die eigentliche Klasse, die sich Payne mit Clooney und Woodley auf die Insel geholt hat. Und wobei die darstellende Kunst das herausragende Merkmal des Films ist, gestaltet sich dieser konzeptionell doch weitaus komplexer. Denn man wird erstaunt feststellen, dass nicht nur die Figuren so einnehmend realistisch getroffen sind, sondern sich zudem auch noch die Regie vehement gegen die Erwartungen des Zuschauers richtet.
Wer glaubt, aufgrund der Thematik ein Drama mit „The Descendants“ erwarten zu können, der wird enttäuscht werden. Doch auf der anderen Seite sollte niemand eine Komödie erwarten, sonst ist er hiermit ganz falsch bedient. Aber wie erklärt man einen Film, der hinreißendes Drama ist und zugleich auch urkomische Komödie? Hier wird der unaufdringliche Zauber von Alexander Paynes Film offenbar. Die tragischen Momente sind locker und humorvoll umgesetzt, während die witzigen Situationen mit einer verstörenden Dramatik durchdrungen sind. Stets hält der Film die Balance und rutscht in keiner Szene in die Banalität ab, welche das Szenario erlauben würde.
Hawaii ist nicht nur eine Inselgruppe. Sie geht einher mit ihren eigenständigen, seiner Geschichte verbundenen Traditionen, die nicht nur für Nachfahren der Ureinwohner zum Selbstverständnis geworden sind. Der Hintergrund von hawaiianischer Geschichte und Tradition wird zu einem weiteren, aber sehr unterschwelligen Darsteller. Wenn sich am Ende ein vermeintlicher Kreis schließt, wird in Wahrheit der Blick auf einen stets vorhandenen, aber bisher nicht wahrgenommenen Weg frei. Die schmerzlichen und traumatischen Ereignisse haben erzwungen, was Matt King durch Annehmlichkeit und ignorantem Selbstverständnis nicht wahrgenommen hätte. 1860 wurde dem damals entstandenen Zweig der King-Familie eine Verantwortung übertragen, welche eben diese Familie mit selbstgerechten Privilegien verwechselte.
Dieser wunderbar berührende Film versteht es mit geradezu hypnotischer Intensität, sich der Rührseligkeit zu verwehren und dem platten Humor zu versagen. Er vereinnahmt sein Publikum damit, dass er gegen alle Erwartungen aufgebaut ist. Alles fließt ineinander, nichts ist einfach nur Beiwerk oder schmückender Hintergrund. „The Descendants“ wird zu dieser kleinen, feinen Perle, weil sich alles, was sich im ersten Augenblick als bloßer, netter Regieeinfall oder oberflächliches Füllwerk ausnimmt, am Ende zu einem überwältigenden Ganzen fügt. So kann es auch gehen, dass ein Film auf ganzer Linie überzeugt, weil er mit den Erwartungen spielt, damit kokettiert und sich am Ende doch nicht den Konventionen unterwirft. Kino, wie es viel zu selten erlebt werden darf.
Darsteller: George Clooney, Shaileene Woodley, Amara Miller, Nick Krause, Patricia Hastie, Robert Forster, Barbara L. Southern u.v.a.
Regie: Alexander Payne
Drehbuch: Alexander Payne, Nat Faxon, Jim Rash
Kamera: Phedon Papamichael
Bildschnitt: Kevin Tent
Musikauswahl: Dondi Bastone
Produktionsdesign: Jane Ann Stewart
USA / 2011
zirka 115 Minuten