Die Begeisterung für „The Artist“ kennt keine Grenzen. Keine Preisverleihung, die ohne dieses strahlende Juwel in schwarz-weiß auskommen könnte. Ein Film, der aufhorchen lässt, der bewegt, der die Möglichkeiten des modernen Kinos auszureizen versteht, um die Vergangenheit begreifbar zu machen. Und wer „The Artist“ gesehen hat, verfällt seinem Charme, ist hingerissen von seiner Konsequenz und zeigt sich begeistert vom Spiel mit den Techniken der filmischen Erzählkunst. Doch wenngleich „The Artist“ auch keine Mogelpackung ist, sollte er auch nicht als das Meisterwerk missverstanden werden, welches man ihm als Attribut anheften möchte.
Beginnend im Jahre 1927, als der Stummfilm noch grandiose Urstände feierte, und endend 1932, als der Tonfilm sich als allbeherrschend etabliert hatte, zeichnet Michel Hazanavicius mit seinem Film die Werte der Filmkunst als solche nach. Er verdeutlicht aber nicht die Notwendigkeit des immerwährenden Prozesses der Veränderung, obwohl dies offensichtlich in seiner Absicht lag. Die Klammer des Films ist jeweils eine Step-Nummer, anfangs ohne die vertrauten Klänge, am Ende in bester „That‘s Entertainment“-Manier. Während das Für und Wider des Tonfilms auf der Hand zu liegen scheint, sind beide Szenen einfach zu perfekt als Hommage an die jeweilige nur wenige Monate auseinanderliegende Zeit angepasst, dass jede in ihrem eigenen Charme gerechtfertigt bleibt. Eine greifbare Differenzierung war vielleicht erdacht, findet aber doch nicht statt.
Wenn man von ganz großem Kino spricht, dann spricht man meistens auch von ganz großem Aufwand, der sich in Ausstattung und Design auch auf der visuellen Ebene manifestiert. Und was „The Artist“ auf die Leinwand ablässt, ist ganz großes Kino. Mit nur umgerechnet 15 Millionen Dollar ist das Zeitkolorit nahezu perfekt. Dass die Fassaden der gezeigten Premierenkinos, wie zum Beispiel der des heute noch existierenden La Reina Theaters, nicht dem historischen Original entsprechen, interessiert nur kleinkarierte Freigeister wie den Autor dieser Zeilen. Doch ob Kostümorgien in voll besetzten Kinos, ganze innerstädtische Straßenzüge mit zeitgenössischen Automobilen oder schwelgerischer Popanz mit zeitlich korrekten Innendekors – man darf es schon wagen, von einer optischen Orgie zu sprechen, was Ausstattung, Designer und Kostümbildner geleistet haben. Von Bescheidenheit kann da nicht die Rede sein, sondern eher von Qualität und Quantität eines opulenten Kostümschinkens. Die weltbestimmenden Studios sollten bei den Franzosen in die Schule gehen, was mit 15 Millionen Dollar nicht nur machbar ist, sondern auch nach sehr, sehr viel mehr aussieht.
Mit Jean Dujardin hat Hazanavicius einen grandiosen Charakterkopf an die Spitze gestellt, der mit seiner optischen Mischung von Fairbanks und Gable den perfekten Stummfilm-Star gibt. Auch Berenice Bejo als aufsteigender Tonfilm-Star Peppy Miller versteht es, den notwendigen Charme, dieses kecke Selbstbewusstsein und die verschmitzte Frechheit zu zeigen, die Stars dieser Ära von sich gaben. Ihre offensichtlich südamerikanischen Gesichtszüge verwehren dem Zuschauer dieses weiche und zart anmutende Etwas, welches Mary Pickford nach oben brachte und Hollywood die Garbo nach Amerika holen ließ.
Was „The Artist“ nicht ist, ist ein zelebriertes Wehklagen über die gute, alte Zeit. Es ist ein Spiel mit den Mitteln, mit den Formaten, aber auch mit der Geschichte. Wenn auch in schwarz-weiß und ohne hörbaren Dialog, arbeitet er ganz raffiniert mit den Tonebenen. Der Film spielt nicht in seiner in sich geschlossenen Welt, sondern verlässt immer wieder seinen Überbau, wenn er zum Beispiel seine Hauptfigur lediglich in einem Alptraum Töne hören lässt. Die Figuren agieren nicht nur in einem Stummfilm, ihre Welt ist es tatsächlich, bis sie den Wandel der Zeit begreifen und diesen akzeptieren. Nur der größte Stummfilm-Star aller Zeiten nicht. Indem sich George Valentin als Hauptdarsteller des wirklichen Films dem Fortschritt verweigert, bleiben dem Zuschauer von „The Artist“ auch die Dialoge verwehrt. Bis die Dinge knapp in einer Katastrophe enden. Der Tonfilm war eben nicht aufzuhalten. Nur die deutsche Synchronisation hat es tatsächlich wieder einmal in ihrer dummdreisten Arroganz geschafft, die alles erklärende Ironie in der Geschichte aus dem abschließenden Satz des Films wegzusynchronisieren.
Nicht nur, dass die Erzählstruktur mit der für Filme herkömmlichen Weise bricht, auch Kameramann Guillaume Schiffman tat sehr gut daran, sich nicht strikt an die optische Bildgestaltung und den szenischen Aufbau der damaligen Tage zu halten. Er arbeitete konform zum modernen Kino genauso mit Unschärfen, Naheinstellungen, Handkamera oder langen Fahrten. Nur versteht er es dabei ebenso wie der eigentliche Aufbau des Films selbst, die Muster und Techniken von damals erst auszureizen, um sie schließlich komplett aufzubrechen. Denn die Entwicklung des Kinos war und ist nach wie vor ein fließender Prozess, der sich nicht nur einfach von stumm auf Ton oder von Schwarz-weiß auf Farbe fest machen lässt.
Genau das zelebriert Michel Hazanavicius mit „The Artist“. Es ist nicht der Hang zum Alten, sondern dass auch kreative Prozesse mit einer fortschrittlichen Entwicklung einhergehen. Er fordert auf, das Neue nicht einfach nur zu akzeptieren, sondern sich damit auseinanderzusetzen. Wer immer „The Artist“ mit dem Attribut Meisterwerk schmücken möchte, kann dies ruhig tun. Er ist witzig, charmant, dramatisch und auch spannend. Er ist ein Film, der einen akzeptieren lässt, was man aus dem modernen Kino nicht mehr gewohnt ist. Und dies nicht nur für Cineasten oder Filmhistoriker. Aber das Meisterwerk ist letztendlich nur ein Experiment. Ein Experiment, das funktioniert hat.
Es ist ganz großes Kino, welches funktioniert, weil alle künstlerischen und technischen Komponenten sehr genau kalkuliert aufeinander abgestimmt sind. Weil alle künstlerischen und technischen Arbeiter sich ihrer Liebe zum Kino durchaus bewusst waren. Kino ist kein Ponyhof. Und jeder, der an „The Artist“ mitgearbeitet hat, fand ganz offensichtlich genau daran seine Freude. Es ist ein Spiel mit Konventionen und dem Brechen dieser Konventionen. Das macht aus „The Artist“ diesen ganz besonderen Film, der so nicht noch einmal möglich wäre. Meisterwerk hin oder her.
Darsteller: Jean Dujardin, Berenice Bejo, Uggie, Dash, Dude, John Goodman, James Cromwell, Penelope Ann Miller, Missi Pyle u.v.a.
Regie & Drehbuch: Michel Hazanavicius
Kamera: Guillaume Schiffman
Bildschnitt: Anne-Sophie Bion, Michel Hazanavicius
Musik: Ludovic Bource
Produktionsdesign: Laurence Bennett
Set-Entwurf: Adam Mull
Ausstattung: Austin Buchinsky, Robert Gould
Kostüme: Mark Bridges
Frankreich / 2011
zirka 100 Minuten