Postkarten-Idylle. Grünes Farmland. Männer und Frauen, die versonnen und schweigend ihrer Arbeit nachgehen. Kinder spielen. Doch nach und nach werden die Bilder merkwürdiger, die Szenerie wirkt seltsam. Nach dem Tagwerk essen die wenigen Männer alleine, die vielen Frauen verzehren danach die Reste. Vermutungen, die dem Zuschauer nur anhand von Bildern kommen, möchte man aufs erste nicht akzeptieren. Zu ruhig, zu friedlich wirken die statischen Bilder. In den frühen Morgenstunden tritt Marcy May aus dem Haus, unsicher, ängstlich. Mit einem Kameraschwenk kommt Bewegung in den Film, als Marcy May über die Straße geht. Und schließlich hastet die Kamera subjektiv hinter ihr her, als sie versucht, durch den Wald vom Hof zu fliehen. Für den Rest des Films wird der Hof aber immer bei Marcy May bleiben, auch wenn sie wieder zu Martha wird, wenn ihre Schwester sie bei sich aufnimmt.
Sean Durkin hat lange und hart an seinem Spielfilm-Debüt gearbeitet, was man auch wirklich fühlt. Sogar einen sehr genau durchkonstruierten Kurzfilm hat er vorab gedreht, um sich noch tiefer in die Materie einfinden zu können. Sean Durkin geht so weit, dass er sich sogar jedem Versuch verweigert, einem Publikum anzubiedern oder mit ausgeklügelten Werbestrategien zu locken. MARTHA MARCY MAY MARLENE ist da, so wie er ist, nicht der Film soll sein Publikum finden, sondern das Publikum diesen Film. Der sperrige Titel bleibt genauso wie das Ende. Dieses Ende ist eigentlich ein unzumutbares Unding in der Branche. Eigentlich, denn Sean Durkin kommt damit durch, weil es logisch und konsequent ist. Martha, die vom Führer der Gesinnungsgemeinschaft einfach Marcy May genannte wurde, glaubt fliehen zu können, doch der Hof folgt ihr nach, und er wird ihr für eine sehr lange Zeit folgen.
Schwester Lucy und Schwager Ted kommen kaum an Martha heran, die sich selbstverständlich verschließt. Mit ihnen bleibt der Zuschauer auf Augenhöhe. Was musste Martha erleben? Was ging auf dem Hof wirklich vor? Verspürt sie am Ende noch die Sehnsucht zurückzugehen? Mit wirklich erstklassigen Darstellern gelingt Durkin ein sehr spannendes Drama. Ob Sarah Paulson, Hugh Dancy oder der einmalige John Hawkes, aber allen voran die unglaubliche Sensibilität von Elizabeth Olson. MMMM zieht einen sofort in den Bann, hält einen mit eisernem Griff. Jede Emotion sitzt, alle Dialoge sind auf den Punkt, es gibt keine Längen. Dazu hält Durkin vieles vom Zuschauer fern, was für einen Film dieser Art, mit dieser Thematik so natürlich scheint. Es gibt keine emotionalen Zusammenbrüche, keinen verlogenen Kraftakt der Überwindung, und es gibt kein Schwarz oder Weiß. Marthas gefilmte Erinnerungen an den Hof lassen das Schlimme nur vermuten, versprechen hingegen wirklich viel von dem anfänglich gezeigten Idyll.
Jody Lee Lipes hat das Ganze sehr eindringlich gefilmt. Mit langer Brennweite hält sie die Figuren immer im Fokus, während ihre Umgebung leicht unscharf bleibt. Dieser Film ist weit entfernt von den experimentellen Freuden, die das Arthouse-Kino sonst durchzieht. Alle technischen und künstlerischen Aspekte greifen ineinander und bilden eine komplexe, stimmige Einheit. Martha glaubt dem Hof entfliehen zu können, er wird ihr aber noch für lange Zeit folgen. Auch der Zuschauer wird glauben, mit dem Verlassen des Kinosaals einfach so in die Realität entfliehen zu können. Aber MMMM zeigt so eine unverwaschene Realität, dass sie den Zuschauer noch für lange Zeit folgen wird.
Darsteller: Elizabeth Olson, Sarah Paulson, Hugh Dancy, John Hawkes, Christopher Abbott, Brady Corbet, Maria Dizzia, Julia Garner u.a.
Regie & Drehbuch: Sean Durkin
Kamera: Jody Lee Lipes
Bildschnitt: Zac Stuart-Pontier
Musik: Saunder Jurriaans, Danny Bensi
Produktionsdesign: Chad Keith
USA / 2011
zirka 101 Minuten