Wenn Hugo Cabret durch das gläserne Ziffernblatt des Uhrenturms von Gare Montparnasse blickt, stellt er sich die Welt als eine einzige, große Maschine vor. Uhrwerke und Maschinen haben keine überflüssigen Teile, alles hat seine Bestimmung, jedes noch so gering anmutende Detail hat eine Aufgabe. Für Hugo Cabret ist es wichtig, sich die Welt als einzige Maschine vorzustellen, denn so gibt es für ihn die Gewissheit, dass auch er eine Funktion in dieser Welt erfüllt. Er weiß nur noch nicht, welche Funktion das sein wird. Als Waisenkind lebt er in den längst vergessenen Gängen und Zimmern jenseits der dicken Wände des Bahnhofs. Er hält die mächtigen Uhren instand, weil ihm sein Vater beigebracht hat, wie Uhrwerke funktionieren. Dies könnte ja seine Bestimmung sein. Oder ist es der defekte Automat in Menschengestalt, den sein Vater einst in einem Museum fand? Was passiert, wenn er es schafft, den Automaten in Gang zu setzen? Dieser wie ein Roboter anmutende Automat kann scheinbar selbstständig schreiben – und es könnte eine Nachricht von Hugos verstorbenem Vater sein.
Was schreibt man über einen Film, über den man der Überraschungsmomente wegen eigentlich nichts sagen sollte? Und bei „Hugo“ ist es sehr leicht, mit sehr wenigen Worten viel mehr zu sagen oder zu verraten, als es dem angedachten Zauber der Geschichte gut tut. Wer unvoreingenommen und unvorbelastet „Hugo“ sieht, wird in eine Welt entführt, die selbst für einen renommierten Geschichtenerzähler wie Martin Scorsese vollkommen neu ist. Durch den exzessiven Gebrauch von 3-D offenbart sich ein atemberaubender Mikrokosmos von Passagieren, Ladenbesitzern, Verkäufern und Bahnhofsvorsteher. Der Bahnhof Gare Montparnasse ist das Zuhause von Hugo Cabret, und doch würde er als Herumtreiber ins Waisenhaus gesteckt werden, sollte man ihn erwischen. Es ist eine seltsam anmutende Welt. Und es ist eine seltsam anmutende Geschichte. Sie könnte in einem Paralleluniversum spielen, wirkt so weit weg und ist doch so verständlich nah. Mit gewaltigen, dem Steampunk entliehenen Bildern reflektiert der Film mit längst überholten Techniken und vergessenen Förmlichkeiten unablässig das Flair einer Epoche, in der man der Welt noch Rätsel entlocken konnte, die an Magie erinnern.
Gigantische Zahnräder, endlos schwingende Pendel, gewaltige Stahlkonstruktionen. Was Robert Richardsons Bilder einfangen, lässt einen staunen. Einzelne Bilder, ganze Szenen, die Schnittfolgen, alles ist sorgsam durchdacht, aufeinander abgestimmt und umgesetzt. Ein organischer Fluss, der dem Zauber der unwirklich anmutenden Orte den besonderen Glanz verleiht. Mit nur wenigen Ausrutschern ist „Hugo“ einer der ganz wenigen Filme, die mit der 3-D-Optik tatsächlich die Erzählebene erweitern, anstatt als Gimmick zu langweilen. Martin Scorsese hat bis dahin einen Film geschaffen, der in unserer aktuellen Zeit das darstellen könnte, was die Grundgeschichte für jene Zeit bedeutete, in welcher der Film spielt. Denn da ist mehr, sehr viel mehr. „Hugo“ reflektiert nicht nur in abstrakter Form das Leben und Wirken des jungen Martin Scorsese. Der Regisseur hat aus dem Film eine offensive, leidenschaftliche und dazu noch sehr persönliche Liebeserklärung an das Kino geschaffen.
Aber „Hugo“ ist kein wirklich guter Film geworden. So tief die Verbeugung vor dem Kino der frühen Tage auch ausfallen mag, enttäuscht er mit einer mittelmäßigen Geschichte. Sollte sich John Logan akribisch an Brian Selznicks Vorlage gehalten haben, hätte er gut daran getan, sich gravierende Freiheiten herauszunehmen. Während die Charakterzeichnungen durchaus stimmig und nachvollziehbar sind, und dabei ist es egal, ob der historische Kontext korrekt ist, krankt es gewaltig an den vielen losen Enden. Von Anfang an legt der Film Fährten, Hinweise und Anspielungen, die später nie wieder aufgegriffen werden. Was sich wie ein geniales Konstrukt aufzubauen scheint, löst sich in einem Nichts von braver, geradliniger Geschichte auf. Immer wieder wird dem Zuschauer glauben gemacht, der visuelle Zauber könnte sich am Ende mit der Magie der Erzählung zum filmischen Bombast vereinen.
„Hugo“ ist weder ein schlechter Film noch einer, der enttäuscht. Es ist ein kraftvolles Stück Kino, das anspricht, mitreißt und zu Herzen geht. Aber es ist nie der Film, der er hätte sein können, wenn er mit dem Mut zur Veränderung an die Geschichte gegangen wäre. Ein Uhrwerk und eine Maschine haben tatsächlich nur so viele Teile, wie sie benötigen. Jedes Rädchen, jeder Bolzen, Gestänge, Riemen, Lager, alles hat seine Aufgabe, jedes Teil ist wichtig, damit alles funktioniert. Die Huldigung an das Kino einer vergangenen Zeit hätte zu einer Offenbarung für das heutige Kino werden können. Aber Scorsese hat für diesen Film nicht wirklich Magie angewandt, sondern nur mit Zaubertricks gearbeitet. Und wie bei jedem guten Trick hat „Hugo“ seine staunenden Ohs und überraschten Ahs verdient. Aber Zaubertricks funktionieren meist mit der Kunst der Ablenkung. Diese Ablenkungen sind überflüssige Teile, sie geben nur vor, wichtig zu sein, damit alles funktioniert. Wie Handlungsstücke, die nur ihrer selbst willen eingebunden wurden. Sie dienen dem Moment, aber nicht dem größeren Ganzen. So hätte „Hugo“ etwas wesentlich Größeres werden können.
Darsteller: Asa Butterfield, Chloe Grace Moretz, Ben Kingsley, Sacha Baron Cohen, Emily Mortimer, Christopher Lee, Helen McCrory, Michael Stuhlbarg u.a.
Regie: Martin Scorsese
Drehbuch: John Logan – nach dem Buch von Brian Selznick
Kamera: Robert Richardson
Bildschnitt: Thelma Schoonmaker
Musik: Howard Shore
Produktionsdesign: Dante Ferretti
USA / 2011
zirka 126 Minuten