Die Werbung dröhnt mit dem „Beginn der noch nicht erzählten Geschichte“. Das ist weit hergeholt und doch irgendwie sehr treffend. Aber das soll noch nicht das Thema sein, denn AMAZING SPIDER-MAN ist ein perfekt gesponnener Kokon aus persönlichem Drama, atemberaubender Action und manchmal ungewöhnlich schrägem Humor. Wenn man sich einen für die oberen Sphären Hollywoods relativ unbedeutenden Regisseur wie Marc Webb ins Boot holt, dann können sich die Produzenten vor kreativen Unstimmigkeiten sicher fühlen. Die bisherigen beruflichen Leistungen und gestalterischen Ergüsse von Webb sollen damit auf keinen Fall geschmälert werden. Sicher ist aber, dass nur Multi-Millionen-Dollar-Geldmaschinen schöpferische Freiheiten in der Industrie genießen, und selbst die sind den Anzugträgern ein Dorn im Auge. Allerdings kann man mit einem Blick auf die Autoren eine ungewöhnliche Konstellation und effiziente Vielschichtigkeit feststellen. Vanderbilt ist Garant für Spannungskino mit Tiefgang. Sargent kritzelte mit an Raimis zweitem und drittem Aufguss des freundlichen Krabblers, kennt also bestens das bereits verwendete Material. Und Kloves war die Konstante in allen acht Harry-Potter-Filmen, was ihn für Kontinuität und Spannungsaufbau einer ganzen Reihe prädestiniert. Denn wenn etwas sicher ist in dieser Welt von Geld und noch viel mehr davon, dann, dass AMAZING SPIDER-MAN als alleinstehender Film nicht allein im Netz bleiben wird.
Da es Menschen gibt, die Handlungsinhalte in Rezensionen für unnötig und überflüssig halten, wird diesen Individuen hier Genüge getan. Es ist die Geschichte des um keine Schwierigkeit verlegenen Schülers Peter Parker, der in seiner Wandlung zum verantwortungsvollen Spider-Man heranreift. Andrew Garfield ist die perfekte Mischung aus verstocktem Einzelgänger, dem ein klares Ziel fehlt, und dem überheblichen Großkotz, der unter einer anonymisierenden Maske endlich tun und lassen kann, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Seine von Wut und Enttäuschung getragene Wandlung zu mehr und tieferer Verantwortung ist steinig, und Garfield trägt das mit einer hingebungsvollen Leichtigkeit und einnehmenden Glaubwürdigkeit. Emma Stone ist als High-School-Diva Gwen Stacy in ihrer Coolness und Bestimmtheit überzeugend, aber doch nur dieser kleine Motor, der eigentlich Spider-Man beziehungsweise Peter Parker charakterlich weiterbringt. Während von Sally Field über Martin Sheen bis hin zu Campbell Scott, Embeth Davidtz und Irrfan Khan alle Leistungen dem Film zuträglich sind, fällt Rhys Ifans leicht ab. Als verrückter Doktor Curtis Connor verliert Ifans sich allzu schnell und weniger überzeugend in seinen übersteigerten Wahn. Und als Bösewicht Lizard verschwindet und verpufft sein Einsatz hinter einer nicht sehr überzeugenden Figur aus dem Computer.
Wenn gerade die Kopfpartie des am Computer generierten Lizard nicht sehr gelungen wirkt, ist das einfach als Problem der Kreativdesigner zu veranschlagen. Dafür sind ansonsten sämtliche Effekte allererste Sahne. Und gerade im wuchtig überproportionierten Showdown gibt es weder gerenderten Leistungsabfall noch grafische Perspektivverschiebungen. Fast ein Jahr Nachbearbeitung haben sich hier anscheinend bewährt und zum Wohle des erwartungsvollen Zuschauers auch gelohnt. Die drei Cutter Bell, McCusker, und Scalia hätten sich gerade in den Actionsequenzen ein klein wenig mehr Zeit lassen können. Natürlich sollen die Bewegungen des Spinnenmannes übermenschlich schnell sein, aber seine Bewegungsabläufe und Reaktionen hätte man schon gerne auch mal genauer betrachten wollen, gerade weil die Action auch sehr originell choreografiert wurde.
THE AMAZING SPIDER-MAN ist perfektes Hollywood-Popcorn, dessen Schwächen vernachlässigbar sind und ohne Bedeutung bleiben. In seinem klassischen Aufbau des Unterhaltungskinos ist es den Machern dieser altbekannten Form von Erzählstruktur auf allen Ebenen gelungen, das jeweils Beste einfließen zu lassen. Das beginnt bei den Darstellern und geht natürlich über die Spezial-Effekte bis hin zur Inszenierung, dem bombastischen Ton, den klar konzipierten Kamerabildern und natürlich dem perfekten Zusammenspiel all dieser Komponenten und Aspekte.
An dieser Stelle würde eine wohlwollende Besprechung enden und einen perfekten Film aus dem Hollywood-System für ein geneigtes Publikum empfehlen. Aber dies ist SPIDER-MAN. Wieder einmal. Nur 10 Jahre nach dem ersten Teil von Sam Raimis Trilogie und nur fünf Jahre nach dem nicht gerade glorreichen Abschluss der drei Teile. Ein direkter Vergleich dieses Films zum damaligen ersten Teil scheint auf den ersten Blick vermeidbar. Objektiv gesehen hat Marc Webb ja einen perfekten Film inszeniert. Aber wie objektiv kann eine Betrachtung sein, wenn ein ebenso aufsehenerregender und in allen Aspekten gelungener SPIDER-MAN von Sam Raimi bereits gemacht wurde? Hier wird aus der objektiven Betrachtung ein verwirrendes Erlebnis von Altbekanntem. Was bei SPIDER-MAN eingeflossen ist und ihn zu einem Actionfilm mit tiefgründiger Charakterzeichnung machte, spiegelt sich für den Zuschauer bei dem aktuellen AMAZING SPIDER-MAN. Es war alles schon einmal, mindestens genauso gut, da.
Interessant wird es bei Peter Parkers Liebe, die von Mary Jane Watson zu Gwen Stacy gewechselt ist. Da man sich nach wie vor an der Comic-Vorlage orientiert, gibt das ein interessantes Szenario. Gwen Stacy war Peter Parkers erste Liebe vor Mary Jane. Gwen war ein Charakter in Raimis drittem Spider-Man-Film, hier allerdings scheinbar ohne große Bedeutung. Wer die Geschichte aus den vorgebenden Comics kennt, die erste Film-Trilogie mit der neu gestarteten vergleicht, könnte auf einen sehr interessanten, aber auch gewagten, wenngleich genialen Coup aufmerksam werden. Denn die zwei Trilogien könnten am Ende zwei sich ergänzende, aber dann doch jeweils eigenständige Filmreihen ergeben. Zwei eigenständige Trilogien, die so ineinander gewoben werden, dass sie doch untrennbar voneinander bleiben. Für diese Gedankengänge muss man die eigentliche Geschichte aus den Comics kennen, und das macht dieses Abenteuer schon wieder ungemein spannend.
Im Schatten von Sam Raimis SPIDER-MAN verblasst AMAZING SPIDER-MAN, dies allerdings unverdient. Und wenn man die Möglichkeiten für die Zukunft betrachtet, ergibt sich daraus ein wirklich aufregendes Abenteuer für den Filmfan, den Nerd und den gewöhnlichen Kinogänger. Aber das sind eben nur Spekulationen, die nach einer objektiven Rezensionsbetrachtung übrigbleiben. „Aus großer Kraft folgt große Verantwortung“, sagt Onkel Ben, allerdings bei Raimis SPIDER-MAN. Das trifft auch die Macher der aktuellen Trilogie. Sie zeigten große Kraft, und jetzt bleibt auch die Verantwortung bei ihnen.
Darsteller: Andrew Garfield, Emma Stone, Rhys Ifans, Dennis Leary, Martin Sheen, Sally Field, Irrfan Khan, Campbell Scott, Embeth Davidtz u.v.a.
Regie: Marc Webb
Drehbuch: James Vanderbilt, Alvin Sargent, Steve Kloves
Kamera: John Schwartzman
Bildschnitt: Alan Edward Bell, Michael McCusker, Pietro Scalia
Musik: James Horner
Produktionsdesign: J. Michael Riva
USA / 2012
Zirka 136 Minuten