Ein Buch zum Verlieben
Ich bin ein sehr visueller Mensch. Daher kommt es, das ich Wer die Nachtigall stört im Fernsehen gesehen habe, bevor ich wusste, das es eine Romanverfilmung war. Ich habe den Film ein zweites Mal gesehen, als ich bereits wusste, dass es eine Romanverfilmung war, was mich aber nicht weiter beeindruckt hat. Warum sollte ich, bitte schön, drei Tage an einem Buch verschwenden, wenn der Film in zwei Stunden abgefeiert ist?
Es ist die Geschichte der jungen Scout, die in den dreißiger Jahren im tiefsten Süden Amerikas aufwächst. Der Ausdruck ‚tiefster Süden‘ spielt natürlich auf die offen zur Schau getragenen Rassendiskriminierung an, die in dieser Region nicht nur am deutlichsten zu spüren war, sondern auch heute noch ist. Scouts Vater, der aufrichtige Anwalt Atticus Finch, wird eines Tages zum Pflichtverteidiger eines Schwarzen bestimmt. Über die Anfangs unbescholtene, friedliche Welt von Scout und ihrem Bruder Jem ziehen sich plötzlich die Schatten von Intoleranz und Rassenhass.
Ich bin ein sehr visueller Mensch. Aber das ich keinen Fernseher am Bett stehen habe, ist dem Umstand zu verdanken, das ich dabei sofort einschlafen würde. Notgedrungen komme ich also aufs Lesen. So blieb es in all den Jahren natürlich nicht aus, das ich zwangsläufig einmal über den Roman Wer die Nachtigall stört stolperte. Gebraucht, versteht sich. Ich gebe doch nicht Unsummen für einen Schinken aus, der zum einen alt ist und dessen Geschichte ich längst kannte.
Harper Lee, und das erfuhr ich natürlich im Kino, war eine enge Freundin von Truman Capote und sie assistierte ihm bei seinen Recherchen für Kaltblütig – In Cold Blood. Kino bildet eben doch, also nahm ich mir den einzigen Roman, den Harper Lee bis heute geschrieben hat, einfach mal zur Brust, sprich mit ins Bett.
Lee hat Nachtigall in einer wundersamen kunstvoll, einfachen Sprache verfasst. Klingt verkorkst, ist aber so. Keine überflüssigen Schnörkeleien, ein ehrliches Lebensgefühl, sehr direkt und auch unheimlich realistisch. Zugleich sind die Dialoge und Empfindungen der Kinder so greifbar geschildert, dass die Gedanken an die eigene Kindheit unwillkürlich auf einen zurück schlagen. Was mich aber am meisten beeindruckte, war die Erfahrung, wie unverrückbar eng ein Film in Ton und Aussage mit der Romanvorlage einhergehen kann.
Natürlich ist der Reiz beim Lesen der, das man sich durch die Erzählung seine eigene Welt errichten kann. Aber ich war wirklich nicht böse, ganz im Gegenteil, das bei ‚Wer die Nachtigall stört‘ vom ersten Satz an die junge Scout Darstellerin Mary Badham in meiner Fantasie herum tanzte, Blödsinn anstellte und versuchte die Welt der Erwachsenen zu begreifen. Und ich war sehr erfreut, das Gregory Peck mich durch den Roman begleitet, mir Szenen vorspielte, die es nicht die die Verfilmung schafften.
Ob Harper Lee tatsächlich den Pulitzer-Preis mit diesem Roman verdient hat, wage ich überhaupt nicht zu beurteilen. Ich kann nur sagen, dass ich trotz des bedrückenden Themas, selten eine derartige Freude beim Lesen hatte. Es ist sehr schwer diesen Roman wirklich weiter zu empfehlen. Mit all diesen unterschiedlichen Geschmäckern, kann so etwas kritisch werden. Aber ich wage zu behaupten, das von all den Realisten, wie eben Capote, Steinbeck, oder wie sie alle heißen mögen, Harper Lees Wer die Nachtigall stört der schönste und ehrlichste Roman ist.