Frisches Blut und alte Haudegen – Harry Brown
Dass der Genrefilm längst keinen Grund mehr hat, sich im Programmkino-Schatten des strahlenden Mainstream-Multiplex zu verstecken, beweist sich Jahr um Jahr am stetig wachsenden Erfolg des Fantasy Filmfests. Für die Macher des Filmfests um Gründer Rainer Stefan bedeutet Genrefilm expliziter Splatter genauso wie Psychoschocker – vom Gangsterfilm bis zur experimentellen Bilderwucht. Das heißt vor allem Thriller, Horror oder Science Fiction aus Norwegen, Schweden, Vietnam, Frankreich, Belgien oder Südkorea. Blut aus Amerika fließt dagegen verhältnismäßig sehr verdünnt durch die Venen des Filmfestes. Was das alljährliche Programm des FFF in reiner, grober, oft sehr derber Form zeigt, hat natürlich längst auch das modrige Fleisch des amerikanischen Mainstream-Kinos aufgefrischt. Aber Bluttransfusionen dieser Art sind nun mal stark verwässert. Wer wissen will, wie es im Kino zur Legimitation eines von PIRANHAS angeknabberten Penis kommen konnte, der sollte Peter Jacksons BRAINDEAD gesehen haben, ebenfalls ein früherer Beitrag des FFF. Nur, dass der eine Film vor blutigem Charme strotzt, der andere hingegen zur fauligen Effekthascherei verkommen ist
Sich acht Tage auf ein Festival dieser Größe und Art einzulassen, bedeutet in erster Linie, die wirkliche Welt für acht Tage zu vergessen. 74 Filme stehen zur Auswahl, jeweils zwei Filme laufen stets parallel, nur 3 oder 4 werden innerhalb des Programms wiederholt. Eine Selektierung fällt dem Fan schwer. Das ewige Hin- und Herblättern und -studieren des Programmheftes macht die Sache eher schwieriger. Eigentlich will jeder Beitrag gesehen werden. Wirkliche Hardcore-FFFler nutzen da durchaus die Möglichkeit der verschiedenen Festival-Orte, die zeitversetzt bespielt werden. Doch wer auf Reisen verzichten will und auch sonst mit weniger Freizeit für die Kinobesuche auskommen muss, der blättert weiter hin und her im Programmheft.
Diverse Kategorien können dabei Entscheidungshilfen bieten, bevor man sich fragend die Kopfhaut vom Schädel kratzt. Directors Spotlight, Centerpiece, Focus Asia, Special Premiere Screening oder Fresh Blood. Die letzten zwei Kategorien vereint dieses Jahr MONSTERS auf sich. Ein mit minimalster Crew im Guerilla-Stil gedrehter Science Fiction Film, in dem halb Mexiko und Amerika von Außerirdischen okkupiert ist. Ein Film, der Erinnerungen an den FFF-Erfolg DISTRICT 9 von 2009 aufkommen lässt, um danach seinen Siegeszug im normalen Kinoprogramm anzutreten. Und ein Film, der den kommenden Blockbuster-Invasions-Filmen SKYLINE und BATTLE: LOS ANGELES das Blut aus dem Körper pressen könnte.
Zur Kategorie Fresh Blood gehört aber auch Daniel Barbers zweite Regiearbeit, mit einem Drehbuch von Gary Young, Autor von erst fünf Filmen. Das Ergebnis heißt HARRY BROWN. Den Einstieg bilden schockierende, mit dem Handy gefilmte Bilder. Und der Film hält, was dieser Anfang verspricht. Es ist ein düsterer Film, brutal und schonungslos, aber nicht grafisch blutig. Michael Caine spielt diesen Harry Brown, der sich in einer Welt wiederfindet, mit der er kaum noch zurechtkommt. Rücksichtslose und gewaltbereite Jugendliche, die aus einem Stadtviertel einen Alptraum werden lassen, gehören nicht zu dem Lebensabend, wie ihn sich Harry Brown vorgestellt hatte. Er meidet die Schnellstraßen-Unterführung, weil er weiß, dass sich dort der betrunkene und kaltblütige Mob aufhält. Es ist diese Unterführung, wegen der Harry wieder einmal einen längeren Umweg macht und deswegen zu spät ans Sterbebett seiner Frau kommt. Bei Harry beginnt eine Veränderung, die erst kaum spürbar ist, dann aber knallhart eintritt.
HARRY BROWN ist in allen technischen Aspekten tadellos umgesetzt. Die Bilder von Kameramann Marin Ruhe sind angemessen kalt und bedrückend. Ein Film, der mit sehr viel Gespür eine subtil bedrohliche Atmosphäre erzeugt. Hilfeschreie zerfallen zwischen den Wohnsilos zu undefinierbaren Tönen. Auf Hilfe darf niemand hoffen. Aber HARRY BROWN ist kein Film der Effekte und technischen Raffinessen, es ist ein Schauspielfilm. Ein Schauspielfilm, bei dem man sich keinen besseren als Michael Caine vorzustellen wagt. Der Altmeister der gehobenen Unterhaltung beherrscht jede seiner Szenen mit greifbarer Präsenz. Schleichend wird aus dem alten, traurigen Charakter, ein stoischer, verbitterter Jäger. Man hat sogar das Gefühl, dass Caine im Fortlauf des Films immer jünger zu wirken scheint. So dominant Caine auch sein mag, ließ es sich das „frische Blut“ der Filmemacher nicht nehmen, ihm eine exquisite Auslese britischer Namen an die Seite zu stellen. Emily Mortimer, Charlie Creed-Miles, David Bradley und auch Liam Cunningham in einer kleinen Rolle stehen ihren Mann bzw. ihre Frau, und Jack O’Connell darf die Bösartigkeit wiederholen, die ihn schon in EDEN LAKE so wunderbar hassenswert machte.
HARRY BROWN könnte die britische Variante von GRAN TORINO sein, allerdings ohne den schmalzigen falschen Pathos. Er hat aber auch viel vom Grundtenor aus NO COUNTRY FOR OLD MEN, mit Menschen; die in einen gesellschaftlichen Wandel hineinleben, der ihre eigenen Wertvorstellungen über den Haufen wirft. Doch in erster Linie ist HARRY BROWN ein sehr eigenständiger Film, der es brillant versteht, den Zuschauer an der Hand zu nehmen und den Griff immer fester zu schließen. Und gerade als man glaubt, den weiteren Verlauf der Geschichte vorausahnen zu können, wird HARRY BROWN plötzlich zu einer soziopolitischen Reflexion, allerdings ohne belehrender Absichten.
Dieser Film ist einer der Gründe, die das FFF zu etwas Besonderem machen. Wo man auf Entdeckungsreise gehen kann, wo man auch alle Stufen von Emotionen durchlaufen darf, wo man unter Gleichgesinnten verweilt. Und es ist bei weitem nicht nur HARRY BROWN, den man dank des FFF auch dort sehen kann, wofür er konzipiert wurde, aber wegen schlampiger Vertriebspolitik kaum gesehen wird: auf der großen Leinwand.
Harry Brown
Darsteller: Michael Caine, Emily Mortimer, Charlie Creed-Miles, David Bradley, Liam Cunningham, Sean Harris, Ben Drew u.a.
Regie: Daniel Barber – Drehbuch: Gary Young – Bildgestaltung: Martin Ruhe – Bildschnitt: Joe Walker – Musik: Ruth Barrett, Martin Phipps
Großbritannien / 2009 – zirka 103 Minuten
Bildquelle: Lionsgate