Ist es wirklich genug, dass man einen Film einfach nicht mehr aus dem Kopf bekommt? Sollte das nicht das Anliegen eines jeden ambitionierten Filmautors sein? Mit immenser Beharrlichkeit lässt sich Nolan einfach nicht in die Schublade des Regisseurs stecken. Er kommt eigentlich der Antwort auf die Hollywood-Standard-Frage am nähesten: wer in die Schuhe von Steven Spielberg wachsen könnte. Doch auf der anderen Seite ist Nolan den europäischen Meistern wesentlich näher. Nicht der stoischen Kälte von Bergman, aber der unkonventionellen Frische von Truffaut bestimmt. Für sieben seiner bisher acht Regiearbeiten hat er selbst die Bücher verfasst. Das funktionierte bei Woody Allen immer gut. In der sehr hochpreisigen Sparte des Hollywood-Blockbusters hingegen ist es eigentlich kaum vorstellbar.
Selten ist ein Film in seiner Wirkung seiner eigenen Handlung so nahe gekommen. Nolan zwingt sein Publikum in ein Konstrukt aus Fragen und Möglichkeiten, das ähnlich funktioniert wie der Träume manipulierende Cobb (DiCaprio). Im Auftrag ominöser Interessenten stiehlt Cobb eigentlich Ideen und Träume aus dem Unterbewusstsein Dritter, mit Mitteln, die man nicht verstehen muss. Der Großindustrielle Saito (Watanabe) ist dabei das jüngste Opfer, der sein Unterbewusstsein allerdings so fest im Griff hat, dasser Cobb und seinen Partner Arthur (Gordon-Levitt) überwältigen kann. Als Wiedergutmachung müssen Cobb und seine neu zusammengestellte Truppe einen Auftrag für Saito erledigen. Allerdings sollen die Traumtänzer keinen geistigen Diebstahl begehen, sondern eine bestimmte Idee in das Unterbewusstsein des Saito-Konkurrenten Robert Fischer (Murphy) implizieren. Fischer muss am Ende davon überzeugt sein, dass diese Idee tatsächlich von ihm selbst ist.
Auf den ersten Gedanken wirkt es nicht sonderlich originell, die Gedankenwelt der Wirklichkeit nachzuempfinden, in der die Personen sich in realen Szenarien und Umgebungen bewegen. Doch das ist der ausgefuchste Trick in Nolans Geschichte, der mit dem Fortlauf der Handlung immer weitere Ebenen von Traum, Bewusstsein und Gedanken hinzufügt und ineinander verschachtelt. Dass dies kein einfacher Popcorn-Spaß wird, macht der Film gleich mit der ersten Szene deutlich, die sich erst am Ende auflöst. Dabei zuviel von Handlung oder Auflösung zu verraten, ist kaum möglich. Zu vielschichtig und auch viel zu ambitioniert sind Nolans Gedankengänge zur Gedankenwelt ausgefallen. Aber daraus ergibt sich auch ein ganz besonderes Filmvergnügen, das den Zuschauer ununterbrochen fordert. Mit einem geradezu perfekt anmutenden Ensemble, raffinierten Regieeinfällen und einer bestechenden Optik wird das Publikum gnadenlos in den Irr- und Wirrgarten hineingezogen und nicht mehr losgelassen.
Kopfkino ist das, in zweifacher Hinsicht. Es findet im Kopf der Protagonisten statt und wird im Kopf des Zuschauers weitergesponnen. Im Blockbuster-Kino äußerst selten dieser Tage, das sonst von Neuauflagen und Fortsetzungen bestimmt wird. Vor zehn Jahren, zu Zeiten MEMENTOs, hat Nolan bereits mit den ersten Entwürfen für INCEPTION begonnen. Spätestens, wenn sich drei zeitgleich spielende Handlungsebenen aus drei verschiedenen Ebenen des Unterbewusstseins übereinanderlegen, versteht man, dass diese Zeit des Drehbuchschreibens wirklich notwendig war. Und wenn sich dabei auch noch eine vierte Realität öffnet, welche eigentlich sehr irreal ist und dieses verwirrende Szenario umschließt, dann versteht man auch, dass INCEPTION überhaupt nicht richtig greifbar wird. Christopher Nolans Welt zu beschreiben, ist kaum möglich.
Natürlich könnte man mit Blick auf das größere Gesamte zur Vermutung kommen, dass der Anspruch wesentlich größer war, als es die Möglichkeiten der Umsetzung zuließen. Aber mit Gewissheit lässt sich das eigentlich nicht behaupten, denn der, der Christopher Nolans wahrgewordenen Traum wirklich in voller Schönheit verstanden haben will, ist schwer zu finden. Jemand, der fasziniert und nachhaltig beeindruckt bleibt, findet sich hingegen leicht.
Dennoch müssen sich die Marketing-Strategen von Warner Bros. die Rüge gefallen lassen, eine Mogelpackung ins Rennen geworfen zu haben. In den überfüllten Wochen und kurzen Fristen des Kinosommers möchte jeder um die Hand des Zuschauers anhalten, und wenn man schon keine Fortsetzung, Comic-Verfilmung oder einen Neustart vorweisen kann, dann muss man eben auf den Typen hinweisen, den die Welt als Regisseur von DARK KNIGHT kennt. Dazu wird in Poster-Form das Versprechen abgegeben, ein CGI-gespicktes Effekte-Abenteuer erwarten zu dürfen. Sich überlappende Straßenzüge und zerfallende Städte. INCEPTION hält selten, was die Werbung suggeriert, hält sich eher bedeckt, überwältigt aber mit der schieren Leichtigkeit und Genialität, wie sich diese Effekte dann tatsächlich präsentieren.
Eine Straße, die sich in sich selbst faltet, ist natürlich gerade in der Größe einer vorbildlichen Kinoleinwand ein optischer Höhenrausch. Noch dazu, weil sich die Tricktechniker nicht auf einen apokalyptischen Alptraum einlassen, sondern ästhetisch faszinieren. Aber zum wirklichen Höhepunkt entwickelt sich der Kampf von Joseph Gordon-Levitt gegen ein Äquivalent von Leukozyten des Unterbewusstseins in menschlicher Form. Das Set ist ein sich langsam um sich selbst drehender Hotelkorridor, in dem sich die Protagonisten fast schwerelos bewegen. In Schnitt, Kamera und Inszenierung schon jetzt ein Klassiker des Action-Kinos. Und wenn man noch die Umstände mit einbezieht, aus welchen Gründen es überhaupt zu diesem Kampf unter diesen Umständen kommen konnte, dann reflektiert sich die ganze Genialität von Christopher Nolans Phantasie.
In allem ist INCEPTION aber nicht der Film, der zwingend zum wiederholten Ansehen einlädt. Er birgt keine Geheimnisse, die sich beim zweiten Mal mit einem großen Aha-Effekt offenbaren könnten. Zudem ist er auch weniger verspielt, als man der Thematik zugestehen könnte. Personen, ihre Handlungen und die grundlegenden physischen Gegebenheiten zeigen kaum unterschiedliche Verhältnisse zwischen Realität und Unterbewusstsein. Das ist bestimmt auf eine Art die Absicht des Regisseurs und Drehbuchautors, die Unterscheidungen von verschiedenen Traum- und Realitätsebenen noch stärker aufzuheben. Dennoch geht dem Film dadurch dieses undefinierbare Etwas verloren, welches ihn komplett aus der Schiene des kalkulierten Sommerkinos genommen hätte.
Christopher Nolan bestätigt sich in vollem Umfang als Ausnahmeregisseur, der längst ganz oben angekommen ist und eigentlich die Vergleiche nicht zu scheuen braucht, ob es nun in Richtung Spielbergs Hollywood oder dem europäischen Autorenkino gehen sollte. INCEPTION ist nicht ohne Makel, doch diese kratzen höchstens an der Oberfläche. Die 160 Millionen Dollar Produktionskosten sind ein klares Zugeständnis an den Erfolg der beiden BATMAN-Filme gewesen. Im Nachhinein dürfte Warner mit der Entscheidung äußerst zufrieden sein. Ebenso der Zuschauer, der endlich einmal keine Veranlassung sieht, das Budget in Frage zu stellen.
Darsteller: Leonardo DiCaprio, Joseph Gordon-Levitt, Tom Hardy, Ken Watanabe, Ellen Page, Dileep Rao, Marion Cotillard, Cilian Murphy, Tom Berenger, Pete Postlethwaite und Michael Caine
Regie, Drehbuch: Christopher Nolan – Kamera: Wally Pfister – Bildschnitt: Lee Smith – Musik: Hans Zimmer – Produktionsdesign: Guy Hendrix
USA / 2010 – zirka 148 Minuten