Die Augen sind die Spiegel der Seele. Was für ein Tausch, auf den sich Coraline Jones da einlassen müsste, um ihren Eltern endlich zeigen zu können, das man immer bekommt was man will.
Zusammengeglaubt aus verschiedenen Abenden in welchen Autor Neil Gaiman seinen eigenen Kindern Gute-Nacht-Geschichten zum Besten gab, kam 2002 das Buch CORALINE auf den Markt. Und wer Gaimans Gespür für außergewöhnliche Geschichten kennt, weiß dass er sich auch bei CORALINE auf einiges gefasst machen sollte. Und die Verfilmung setzt dem Ganzen noch eines drauf. Da ist vom Familienspaß die Rede, oder dem Märchen für Erwachsene, oder auch der kindlichen Gruselmär. Der Film möchte von allem ein bisschen sein und ist letztendlich ein Horrorfilm, der so manchem aus der Zielgruppe lange Nächte bereiten wird.
CORALINE, oder auch Caroline, wie ihre Umwelt sie gerne fälschlicherweise nennt, ist nicht das übliche missverstandene Kind. Sie ist laut, aufmüpfig und zeigt auch keinerlei Verständnis für andere. Sie ‚will‘ und wenn sie es nicht bekommt, wird sie bockig. Es mutet an, das Coraline wohl ihre Lektion lernen wird. Und ihre Eltern? Zeigen kein Verständnis für ihre Tochter, sind selbstbezogen und geben sich ihrem trostlosen Leben hin. Vielleicht sind sie es, die wohl ihre Lektion lernen werden.
Es ist keine wirklich heile Welt aus der die Geschichte heraus beginnt, weder hatte das der Autor im Sinn, noch der Adapteur Neil Selick. Es ist auch nicht die perfekte Welt, auf welche die Geschichte am Ende zusteuern wird. Trotz Puppen und bunten Brimborium sind es nur allzu menschliche, reale Situationen. Jenseits dieser geheimnisvollen kleinen Tür könnte die erwünschte perfekte Welt liegen. In aller Innigkeit geliebt werden, Wünsche erfüllt bekommen, entgegengebrachtes Verständnis, das Ideal für die eigene Bequemlichkeit. Doch zu was für einen Preis? Die Augen sind der Spiegel zu Seele, und die Seele ist der Preis.
Jedes Studio hält sich mit Aussagen über das Budget entweder bedeckt oder übertreibt maßlos. So ist schwerlich zu behaupten, das CORALINE der teuerste Puppen-Animationsfilm ist. Doch sicherlich ist er das bisher aufwendigste Stop-Motion-Abenteuer. Mit 130 Sets, hat er mehr Spielorte als jeder durchschnittliche Hollywood-Blockbuster. 2 Jahre Vorbereitung und 18 Monate in denen 21 Animateure die Figuren Millimeter für Millimeter bewegten. Selbst die spektakuläre Metamorphose des Gartens, der lautstark CGI nachgesagt wurde, entstand im peniblen Einzelbild-Verfahren. Macher Henry Selick behauptet sogar, dass für die Hauptfigur über 200.000 Variationen an Mimik möglich gewesen sind. Letzteres gilt es zu beweisen, dafür ist nicht von der Hand zu weisen, dass es der erste Stop-Motion-Film ist, der komplett in 3-D gedreht wurde.
CORALINE ist ein sehr finsteres Abenteuer, das seine jungen Zuschauer in Dialogen und Szenen nicht schont. Henry Selick erzeugt mit seinem Film sehr bewusst Angst und inszeniert dabei genau im Geiste der Romanvorlage. Da wird die Umgestaltung einer Puppe als brutales Schlachtfest zelebriert oder das Film-Tabu im Umgang mit toten Kindern wie selbstverständlich gebrochen. Starker Tobak, der in der Erwachsenenwelt für einigen Gesprächsstoff sorgte ob der Altersfreigaben, ähnlich der Empfehlungen für den Roman. Doch was ängstigt Kinder wirklich? Wo liegen die Grenzen des Zumutbaren? Das sollte im Auge des Erziehungsberechtigten bleiben. Die Augen sind ja der Spiegel…, genug davon.
Fakt bleibt, das CORALINE den kuscheligen Pfad von ‚Alles wird gut‘ verlässt und Kindern bietet, was es in dieser Form kaum gibt. Es ist ein Horrorfilm, der Ängste heraufbeschwört und Gänsehaut aktiviert. In vielen Aussagen bleibt CORALINE dabei unterschwellig oder setzt dem plakativen Grusel scheinbar belanglose Situationen entgegen, die sich als viel schrecklicher entpuppen. Da denke man nur an die Hunde und dem freimütigen Umgang mit deren Schicksal. Oder es formt sich in der Schlusseinstellung bei näherem Hinsehen, aus den Konturen des Gartens das Gesicht der ‚bösen Mutter‘. Oder wie wäre es mit Wybies nach oben genähten Mundwinkeln? Oder das Wybies Name eine Abkürzung für Why Born ist? Im Übrigen ist Wyborne ein für den Film geschriebener Charakter.
Überraschend ist aber die Verweigerung jedweder moralischen Banalitäten. Selbstverständlich endet CORALINE in gut gelaunter Runde aller überlebenden Charaktere, Gaiman wie Filmautor Selick hatten wohl ein Einsehen. Aber CORALINE wird am Ende kein wirklich besserer Mensch sein und ihre Eltern steigern sich jetzt auch nicht zu den gewünschten Übermenschen, doch jeder dieser Parteien arbeitet daran Wunschdenken und Realität auf ein vernünftiges Maß zusammen zu bringen. Auch dies ist eher so subtil angedeutet, dass man den Vorwurf des Moralisierens wieder stecken lassen kann. Das hat ganz entscheidenden Einfluss auf die Verträglichkeit für Erwachsene Zuschauer. Es ist eben eine schlichte Horrormär und warum soll die für Kinder nicht genauso funktionieren, wie für das große Publikum. Aber immer voraus gesetzt, man weiß, was man dem eigenen Nachwuchs zumuten darf.
So richtig rund läuft aber läuft die Geschichte dann auch nicht. Viele angerissene Dinge werden nicht zu Ende erklärt, oder wirken von vornherein nicht gut durchdacht. Es mangelt in manchen Dingen am Verständnis. Nun ist es nicht Priorität in der reinen Unterhaltung das schlüssigste aller Drehbücher auf den Tisch zu legen. Doch warum Käfer als Wohnzimmereinrichtung und wie kam die ‚böse Mutter‘ dorthin, wo sie ist? Letztlich ist doch wichtig, dass man sich satt sehen kann. So richtig satt sehen. Und da der Film tatsächlich stereoskopisch aufgenommen wurde und die 3-D-Effekte nicht in der Nachbearbeitung entstanden, ist die Räumlichkeit überwältigend. Genau so hat aber Henry Selick seinen Film auch inszeniert, in dem er sein Publikum in diese Welt mit hineinführt, es dort sehen und aufnehmen lässt. Es gibt sehr wohl die eine oder andere Szene, bei der dem Kinogast Mal etwas ins Gesicht zu springen scheint, doch das passiert gerade im Angesicht eines Kinder- und Jugendfilm erstaunlich selten. Es würde schließlich auch nicht den Ansprüchen gerecht, die an 3-D für die Zukunft gestellt wurden.
Nur einmal, da will etwas aus der Leinwand heraus. Da kommt eine Nadel. Die Nadel, welche Knöpfe anstelle von Augen annäht. Die Nadel sticht durch den Stoff und kommt langsam und bedrohlich auf die Augen des Publikums zu. Die Augen sind ja bekanntlich die Spiegel der Seele. Ein morbid, amüsantes Gedankenspiel, das uns Henry Selick mit seinem riesigen Stab höchst motivierter Leute hier aufzwingt. Verschließen wir uns, wenn die Nadel näher kommt? Oder öffnen wir uns für die herrlich durchgedrehte Welt der Coraline.
Darsteller: Dakota Fanning / Luisa Wietzorek, Teri Hatcher / Bettina Weiß, John Hodgman / Patrick Winczewski, Keith David / Reiner Schöne, Jennifer Saunders, Dawn French / Katja Nottke, Robert Bailey Jr. / Hannes Maurer, Ian McShane / Klaus-Dieter Klebsch
Regie, Drehbuch und Produktionsdesign: Henry Selick nach dem Buch von Neil Gaiman – Kamera: Pete Kozachik – Bildschnitt: Christopher Murrie, Ronald Sanders – Musik: Bruno Coulais – Animation: Anthony Scott
USA / 2009 – circa 100 Minuten